Die Geister, die mich riefen: Deutschlands bekanntester Spukforscher erzählt (German Edition)
demjenigen zu reden. Mein Mann rät dringend davon ab, und meine Schwiegermutter auch! Weil ich dadurch erst recht Tür und Tor für so einiges öffnen könnte!
Ich brauche wirklich die Hilfe von jemandem. Wie kann ich diesen Spuk wieder beenden? Wie soll ich mich verhalten? Heimsuchungen begleiten mich nun mein ganzes Leben lang. Ich weiß nicht – ist es die Großtante, ist es meine Oma, oder ist es jemand/etwas anderes? Ich habe ganz stark das Gefühl, dass nichts Gutes dahintersteckt. Gibt es für mich eine Möglichkeit, irgendwie herauszufinden, wer das ist – ohne dass ich dadurch Schlimmeres verursache? Und wie mache ich demjenigen klar, dass hier für ihn kein Platz ist und dass er wieder verschwinden soll?
Schon während des Lesens vermute ich, dass auch in diesem Fall bei den Erscheinungen ein hypnagoger Zustand vorliegt, der eventuell in einen Spukfall überging, den, wie bei der Frau, deren Familie einen Mann im blauen Overall durch die Wohnung gehen sah, auch andere wahrnahmen. Es kann sich aber auch um einen Fall selektiver Wahrnehmung handeln.
Dieser Begriff der »selektiven Wahrnehmung« stammt aus der Wahrnehmungspsychologie: Wenn jemand auf ein bestimmtes Thema fixiert ist, erkennt er in seinem Leben selektiv all jene Dinge, die in ein bestimmtes Muster passen. Ein Hungriger wird überall Essen sehen. Jemand, der eine Parklücke sucht, wird überall besetzte Parklücken finden – oder freie, je nachdem. Man kann das mit dem Repräsentationsmodell von Paul Tholey erklären. Wenn jemand, wie die Frau, die mir geschrieben hat, eine einmalige Erscheinung hatte, dann wird sie unter Umständen ihren Alltag nach weiteren Erscheinungen absuchen. Sie sucht nach Spuren an den Wänden, auf dem Boden, an den Türen. Sie entdeckt Veränderungen, die zwar vorher schon zu sehen waren, die ihr aber erst jetzt auffallen.
Ich erinnere mich an Fälle, in denen die Menschen behaupteten, bei ihnen würde es spuken. Vor Ort zeigten sie uns dann Kratzer auf dem Boden und an der Tür. Alles, was wir identifizieren konnten, waren aber normale Gebrauchsspuren – zum Beispiel am Türschloss, wo der Schlüsselbund beim Sperren an den Türrahmen schlägt. Die Folgerung: Erst wenn die Leute das Gefühl bekommen, dass es bei ihnen spukt, bemerken sie die Spuren. Die selektive Wahrnehmung sorgt dafür, dass Alltäglichkeiten mit einem Mal anders interpretiert werden. Ich nenne das »okkulte Umorientierung«; dadurch bekommt oft die ganze Lebensgeschichte der Betroffenen im Nachhinein eine vollkommen neue Bedeutung. Manche sehen hier das »Schicksal« am Werk, manche vermuten okkulte Kräfte oder eine Verhexung. Daher kommt es, dass viele meinen: »Es gibt keinen Zufall!«
Ich will die Frau, die mir geschrieben hat, im Laufe der Woche sprechen und mache mir noch ein paar Notizen. Ich kann mir vorstellen, dass allein der hypnagoge Zustand dafür sorgt, dass sie – und auch ihre Familie – ihre Umgebung plötzlich nur noch selektiv wahrnimmt. Jede zufällige Bewegung, jedes flüchtig wahrgenommene Knarren wird zum Beweis für die eigene Geschichte. Ich erlebe es sogar hier bei mir, in der Hildastraße. Manchmal besuchen mich Betroffene zu einem persönlichen Gespräch. Sie kommen zu uns ins Büro, gehen in der Diele über den alten, knarrenden Parkettboden und sagen dann, hellwach: »Ach, ist es hier auch?« Selbst das alltägliche Geräusch eines knarrenden Parketts passt in ihre selektive Wahrnehmung.
Ich lege den Notizzettel zur Seite und nehme das nächste Blatt vom Stapel:
Sehr geehrter Herr von Lucadou,
zufällig las ich beim Arztbesuch in einer Zeitschrift über Ihre Forschungsarbeit in der Parapsychologie. Mir sind nach dem Tod meines Ehemannes auch merkwürdige beziehungsweise unheimliche Dinge passiert, die ich mir nicht erklären kann.
Als mein Ehemann am 29. Mai um 13:55 Uhr für immer die Augen schloss, blieb die Wohnzimmeruhr stehen. Abends ging die Wohnzimmertür von allein auf. Es war kein Durchzug. Nachts klirrte es, als wenn ein Trinkglas herunterfallen würde. Aber als ich nachsah, war alles in Ordnung. Meinem Mann, der an einer aplastischen Anämie starb, fiel oft Geschirr aus der Hand. Wenn ich im Garten in der Laube schlief, polterte es um 24 Uhr. Aus diesem Grund bat ich meine Schwiegertochter einmal, bei mir zu bleiben. Sie bestätigte diese Merkwürdigkeit.
An Heiligabend nachmittags machte ich gerade den Abwasch, als ich plötzlich einen kühlen Luftzug spürte und das Gefühl
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