Die Geister, die mich riefen: Deutschlands bekanntester Spukforscher erzählt (German Edition)
und versuche gleich, den Mann zu erreichen. Es ist eine Festnetznummer angegeben und auch eine Handynummer. Auf dem Festnetz ertönt das Freizeichen, aber niemand geht ran. Soll ich es auf dem Mobiltelefon versuchen? Meist fehlt dort die Ruhe, sich ausführlich zu unterhalten, und außerdem ist es eine Kostenfrage. Die Betroffenen ziehen sich zum Gespräch lieber in ihre Wohnung zurück, wo sie ungestört und vor allen Dingen offen über ihre Erlebnisse reden können. Schließlich wähle ich die Mobilfunknummer, einfach um ein Gespräch im Lauf der Woche zu vereinbaren. Nach zwei Freizeichen meldet sich eine Stimme:
»Jaa?«, tönt es laut aus dem Hörer. Der Mann scheint unterwegs zu sein. Ich höre Straßenverkehr im Hintergrund.
»Lucadou hier, Parapsychologische Beratungsstelle in Freiburg.«
»Wer?« Die Stimme schreit gegen den Verkehr an. Ich wiederhole meine Begrüßung.
»Einen Moment«, sagt der Mann. Ich höre, wie die Tür eines Autos geöffnet wird, einen Moment später ist vom Lärm fast nichts mehr zu hören.
»So. Entschuldigen Sie. Ich bin gerade auf einer Raststätte an der Autobahn …«
Als ich mich noch einmal in Ruhe vorstelle, hellt sich die Stimme des Mannes sichtlich auf. Er scheint überrascht zu sein, dass ich mich melde. Viele Menschen, mit denen ich telefoniere, nehmen die Beratungsstelle wohl als etwas skurrile Einrichtung wahr. Wer weiß schon, wie es ist, wenn ein Spukforscher sich meldet? Ist es so, wie wenn eine Behörde anruft? Oder der Pfarrer? Manche mögen denken: Vielleicht hat der Typ da in Freiburg ja selbst nicht alle Tassen im Schrank. Immer wieder höre ich, wie verblüfft die Person am anderen Ende der Leitung ist, dass die Gespräche so normal ablaufen. Anfangs konnte ich mit diesem, als Kompliment gemeinten Satz, wenig anfangen. Inzwischen habe ich begriffen, dass es ein ganz wesentlicher Teil meiner Beratungsleistung ist: Ich vermittle ein Gefühl von Normalität.
»Haben Sie gerade die nötige Ruhe, um über Ihren Fall zu reden?«, will ich nun von dem Mann wissen. Eine Raststätte mag nicht unbedingt der beste Ort dafür sein.
»Über meinen Opa – na, selbstverständlich. Seien Sie ehrlich zu mir: Bin ich ein Spinner?« Der Mann scheint guter Dinge zu sein. Er wirkt, als habe er schon seinen Frieden gemacht mit seinen nächtlichen Erlebnissen. Neugierig ist er dennoch.
»Nun«, beginne ich, »es gibt logische Erklärungen für den Schatten beziehungsweise für das Erscheinen Ihres Großvaters. Die bloße Wahrnehmung des Schattens kann mit Gestaltwahrnehmung zu tun haben: Die Augen nehmen manchmal ganz am Rande des Sichtfeldes etwas wahr, und das Gehirn vervollständigt dieses Bild. Vielleicht kommt der Schatten aber auch einfach von draußen …«
»Das schließe ich aus. Da habe ich schon ein paarmal nachgeforscht«, beeilt sich der Mann zu sagen.
»Gut. Was auch noch sein kann: Sie sind vielleicht in einem hypnagogen Zustand gewesen.«
Ich erkläre ihm den Hintergrund.
»Puh, komplett ausschließen kann ich das jetzt nicht«, sagt er. »Aber warum taucht da gerade mein Großvater auf?«
Noch einmal lasse ich mir die Geschichte vom Tod des Großvaters erzählen. Sie ist nicht ungewöhnlich. Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das lernen kann, sich mit Tod und Sterben auseinanderzusetzen. Die meisten Tiere fliehen, wenn ein Artgenosse stirbt. Kinder haben normalerweise eine ganz natürliche Angst vor dem Sterben und dem Tod. Erwachsene haben diese Angst natürlich auch noch, wenngleich sie sich das oft nicht eingestehen wollen. Es ist also normal, wenn der Mann früher als Junge nicht zu seinem kranken Großvater gehen wollte. Und doch machte er sich Vorwürfe, die nie verschwunden sind.
»Wenn Sie etwas erleben, das Sie nicht gleich einordnen können, kann es passieren, dass Sie es mit einem längst vergangenen Erlebnis verbinden, das Sie aber immer noch belastet. Das Problem ist aus der Psychologie bekannt und gehört zum großen Bereich der ›Attributionsphänomene‹, das heißt der Zuordnungsphänomene: Wenn wir ein Problem nicht aufgearbeitet haben und irgendwann ein neues Problem hinzukommt, das wir zudem nicht verstehen, setzen wir die beiden Probleme zueinander in Beziehung. Wir sammeln die Probleme in Gedanken an, in der Hoffnung, für beide möge es eine große Lösung geben.«
»Aber nach so langer Zeit? Kann das noch sein?«
»Mochten Sie Ihren Großvater?«
»Sehr, sonst hätte ich mich ja nicht so darüber gegrämt, dass ich
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