Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
alles wird sie tun, unwiderruflich in einer Dreiviertelstunde, denn sie weiß, um halb zwölf kommen die beiden Damen zu ihrem Termin. Bis dahin, inzwischen, weil es ihr in den Sinn gekommen, wird sie noch schnell eine kleine Besorgung machen.
In der letzten Zeit hatte die Haushälterin Irmlin eine gute Zeit mit ihrem Herrn, dem Anwalt Neumann. Die gelbhäutige, faltige Frau mit dem strengen Haarknoten schlich herum, hündisch beflissen, es dem Manne Neumann recht zu machen. Und er hat sich geduldig eine gewisse Ordnung aufnötigen lassen. Sie konnte die Zimmer der komfortablen Acht-Zimmer-Wohnung, in der Weimarer Innenstadt gelegen, nur ein paar Schritte entfernt von ihrem Hochparterre, in Ruhe säubern, ihn zu regelmäßigen Mahlzeiten anhalten. Ihn kontrollieren, unter Aufsicht halten wie einen Gymnasiasten. Sie hat den Mann für sich. Energisch, peinlich genau, keinen Widerstand duldend befolgt sie seine Weisungen. Bewahrt ihn vor jeder Störung. Sperrt ihn ab. Wenn er an seinem Manuskript arbeitet oder an einem komplizierten Fall, hat er keinen Blick für anderes, nicht einmal hinter der Gardine hervor für die Straße, er schreibt und schreibt und tüftelt und überlegt, in einem fort hockt er am Schreibtisch, kaum, dass er aufsteht. Die Haushälterin ist so weit gegangen, seine Post zu erledigen, kümmert sich um seine Finanzen. Da er sich jeder Außenwelt verweigert, muss sie ihr Hirn anstrengen. Die Zeiten sind schwer. Man muss die Übersicht behalten, nichts darf entgleiten. Das erfordert Nerven, Talent zur Organisation, rasche Entschlüsse, ständige Bereitschaft. Ihre heisere keifende Stimme ist gefürchtet am Schalter der kleinen Bankstelle, wo sie ihre Aufträge, die Geschäfte ihres Herrn besorgend, tätigt. Keinen Augenblick darf dabei indes der schwierige Dr. Neumann außer Acht, unbeachtet, sozusagen unbeaufsichtigt gelassen werden. Ihre Sorge ist, wenn sie die Bankgeschäfte oder Hauseinkäufe oder Postalisches erledigt: Wer geht ans Telefon, wer reagiert auf die Flurglocke, wer öffnet die Türen und schließt sie wieder, wer nimmt eine Eilsendung oder ein Paket entgegen, wer fertigt unangemeldete Klienten ab, wer die Hausierer und Bettler, die trotz Verbot ins Haus kommen, wer ist da für die Tausend Erfordernisse des Alltages? So läuft sie schnell, besorgt in aller Eile ihren Einkauf, immer in Sorge, dass sich bei ihrem Herrn, dem Anwalt, kein Zwischenfall ereignet.
Die Uhr ist weitergerückt. Es ist zehn nach elf. Der Anwalt Dr. Neumann ist von seiner Ottomane aufgestanden, langsam wickelt er die Fäden für die anstehenden Arbeiten auf, kommt in Fahrt, hat sich an den Schreibtisch gesetzt. Ihm ist im Halbschlaf, liegend auf der Ottomane, eine Idee gekommen, eine Idee für sein Manuskript. Er schreibt, lächelt, streicht Überflüssiges wieder heraus. Wird der Gedankenfluss klarer? Während er eine frühere Passage überprüft, reduziert er sie auf zwei, drei Sätze. Das ist zwingender, logischer. Einfach besser! So sitzt der Anwalt Neumann, versunken in seiner Gedankenwelt, den Rücken gebeugt, schreibend, nachdenkend, mit wachsender Freude und anschwellender Energie, indes noch immer unrasiert und im Morgenmantel, mit nackten und inzwischen kalten Füßen in seinen zerschlissenen Hauspantoffeln. Während er sich selber zuerst leise, schließlich mit lauter Stimme, beinahe als ob er plädiere, seinen Text vorliest, läutet die Flurglocke. Er hört es nicht, und als der Ton schließlich zu ihm durchdringt, beachtet er ihn nicht. Ihm gefallen seine Sätze, die er liest, überzeugend und gewaltig klingen sie. Ihm ist ein gutes Stück gelungen. Die Flurglocke läutet anhaltend, unerbittlich, durchdringend …
Natürlich! denkt der Anwalt, kein Mensch kümmert sich um sein Außen, um seine Umwelt, um ihn, den Rechtsanwalt Dr. Neumann. Eine verdammte Störung! Ein Überfall auf seine Konzentrationsfähigkeit. Oh, diese verfluchte Irmlin! Die schlampige, pflichtvergessene Person, einen stören kann sie immerzu; wenn sie aber wirklich einmal gebraucht wird, ist sie nicht da! Misslaunig, aus den Gedanken und von der Arbeit weggerissen, schlurft er, darauf bedacht, die Hauspantoffeln nicht von den nackten Füßen zu verlieren, in den dunklen Flur. Brummt noch, wenn das jemand Unbestelltes, Unwillkommenes sei, wirft er ihn die Treppe hinunter. Basta!
Öffnet. Prallt zurück.
Vor ihm stehen zwei Damen. Seine bestellten Damen Klara May und Emma Pollmer, vormals May – sein Halb-zwölf-Termin. Die
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