Die Geistesbrüder: Karl May und Sascha Schneider Roman einer Künstlerfreundschaft (German Edition)
kleiner, ein wenig dicklicher Mann mit Kneifer und einem Oberlippenbärtchen. Wie schon am Pappköfferchen zu sehen war, das er schnell und achtlos ins Gepäcknetz befördert hatte, schien er, schäbig und nachlässig gekleidet, ein hastiger, nervöser und unsicherer Typ zu sein. Seine Augen irrten unbeständig hin und her, die Lippen sahen feucht und sehr rot aus. Sogar unnatürlich rot, beinahe wie geschminkt. Auch seine Hände hielt er in andauernder Bewegung, sie wanderten, seit er Platz genommen hatte, über seinen Körper, vom Kopf bis zu den Knien, man sah, dass sie, wenn sie einmal ruhig lagen, zitterten, dass diesen Menschen irgendeine innere Erregung befallen hatte, die er nur schwer unterdrücken konnte. Es dauerte nicht lange, nur ein paar Minuten, da räusperte er sich, machte eine Bewegung, als ob er etwas sagen, eine Erklärung abgeben wollte. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Das schien seine Unruhe und die Erklärungsnot noch zu steigern. Meine Herrschaften, stieß er hervor, er bitte Tausend Mal um Vergebung, dass er hier so hereingeplatzt sei, es sei nicht seine Schuld, er hätte sich verspätet und so den bestellten Platz nicht gleich gefunden, in einem anderen Abteil habe man ihn nicht sitzen lassen, er sei durch mehrere Wagen geirrt, bis ihn schließlich der Schaffner aufgegriffen und hierher gebracht habe, er bitte die Herrschaften Tausend Mal um Vergebung. Seine Rede war schleppend, schlürfend die Stimme, immer wieder tröpfelte Speichel aus dem Mundwinkel. Übrigens, er hieße Lebius, Rudolf Lebius, und er sei auf dem Weg ins Thüringische, nach Weimar wolle er, wo er für seine Zeitung eine Artikelserie vorbereite. Sein Blatt habe er „Sachsenstimme“ genannt, und er sei Redakteur und Herausgeber in einer Person, im nächsten Quartal werde es erscheinen, wie gesagt, er recherchiere in einer Serie, die er herausbringen werde, einer hochbrisanten Sache, von der er indes noch nichts verraten dürfe, aber, wenn Sie einmal, meine Herrschaften, sprach der abgerissene Redakteur in seiner schleppenden Art, indes ohne groß Luft zu holen, wenn Sie einmal irgendeine Annonce, irgendeine Bekanntmachung, irgendeinen Artikel herausbringen möchten, dann könnten Sie getrost auf ihn und seine „Sachsenstimme“ zurückgreifen.
Und er beugte sich vor, der Redakteur Lebius, und überreichte einem jeden Abteilinsassen seine Karte. Hier, die Adresse und auch eine Nummer für den Reiß’schen Apparat, sagte er vergnügt, der Telefonierapparat, über den er in etwa einem Monat verfügen werde. Alles stehe auf dem Kärtchen. Jawohl. Dann könnten sie ihn jederzeit antelefonieren. Bitte sehr, Herrschaften, bitte sehr … Die Abteilinsassen nahmen die Kärtchen, wortlos dankend, schauten ein wenig ratlos darauf, steckten sie, jeder für sich, ein.
Auch Klara May nahm ein solches Kärtchen, sie schaute darauf, drehte das Papier hin und her, rätselte, wo sie diesen sonderbaren Menschen schon gesehen oder ob Karl von ihm gesprochen hätte. Sie wusste es nicht, ihr fiel nichts ein. Aber sie war sich beinahe sicher, glaubte, dass er ihr nicht gänzlich unbekannt wäre. Es musste schon von ihm gesprochen worden sein? Nur wer hatte diesen Lebius erwähnt? War es Dittrich gewesen? Oder Karl selber? War eine Postkarte gekommen, von diesem Lebius unterzeichnet? Sie hatte ein dunkles, ungutes Gefühl, sah prüfend zu dem Menschen hinüber, der ein Notizbüchlein gezogen hatte und irgendwelche Aufzeichnungen hineinschrieb.
Rudolf Lebius saß zusammengekrümmt, jetzt eine starke Brille auf der Nase, er schien ganz und gar abwesend, kümmerte sich nicht mehr um die Menschen im Abteil, schrieb, kritzelte, kaute an seinem Stift.
Klara konnte nicht wissen, welche üble Rolle dieser Mann Lebius noch in ihrem und in ihres Mannes Leben spielen, auch nicht, dass sie ihm schon am nächsten Tag wiederbegegnen sollte und schon gar nicht, dass er dieselbe Person treffen wollte, zu der auch sie jetzt unterwegs war – Emma May, geborene Pollmer.
* * *
Dr. Viktor Neumann, die gepflegten haarlosen Hände unterm Kopf verschränkt, lag in einem halboffenen großblumig gemusterten Hausmantel auf der mit einer unordentlichen, zerschlissenen Decke belegten Ottomane. Sein Gesicht sah grau und gequält aus. Die Augen hielt er geschlossen; während er nachdachte, machte er schmeckende Bewegungen mit seinem Mund, schmatzte, bearbeitete die Oberlippe von innen mit der Zunge. Er hatte sich noch nicht rasiert. Die Möbel im
Weitere Kostenlose Bücher