Die Gejagte
den leichten Weg. Freie Fahrt.«
»Und Runen funktionieren wirklich«, murmelte Jenny und schüttelte leicht erstaunt den Kopf.
»Eine Menge Dinge funktionieren. Und eine Menge Dinge tun es nicht. Die Leute wissen nicht, was funktioniert und was nicht, bis sie es ausprobieren – und dann sind sie normalerweise ziemlich überrascht.«
Jenny ging zu dem Wandschrank hinüber und schaute hinein. Er folgte ihr und trat neben sie.
»Es tut mir leid«, sagte Jenny leise und ohne ihn anzusehen. »Es tut mir leid, dass er das getan hat. Er war kein schlechter Mann.« Dann drehte sie sich um. »Ich kann kaum glauben, dass er dich hier eingesperrt hat.«
»Glaub es«, sagte Julian grimmig.
Jenny schüttelte den Kopf. »Ich werde ihn immer lieben. Aber es war falsch von ihm, das zu tun.« Sie trat in den Wandschrank. »Gar nicht so klein, wie er aussieht.«
»Klein genug.« Er trat ebenfalls hinein und schaute sich um. »Dieser Ort beschwört schlechte Erinnerungen herauf.«
»Dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht eine bessere Erinnerung daraus machen können.« Sie schaute lächelnd zu ihm auf und wich an eine Wand zurück.
Er drehte sich um und blickte lächelnd zu ihr hinab. In dem engen Raum waren sie einander sehr nah. Jenny stand schüchtern da, ein Bein hinter das andere gekreuzt.
Er neigte den Kopf und sein Mund war warm und fordernd. Jenny überließ sich ihm, und der Kuss entfaltete sich wie eine Knospe, die zu voller Blüte erwachte. Er
wurde so atemlos und drängend, dass Jenny ihn nicht mehr stoppen konnte, obwohl sie wusste, dass sie es tun musste. Die ganze Zeit über dachte sie: nur noch eine Minute länger, nur noch eine Minute …
Es war Julian, der sich zurückzog.
»Es ist ziemlich unbequem hier drin.«
»Findest du?« Sie lächelte ihn an und ihre Atmung verlangsamte sich.
»Ganz bestimmt.«
»Nun, dann nehme ich an, wir könnten …«
Jetzt, dachte sie.
Mitten in ihrem Satz bewegte sie sich. Sie hatte in der Kreuz-Position gestanden, einer Kung-Fu-Stellung, die sie von Dee gelernt hatte. Perfekt für eine ansatzlose Bewegung zur Seite. Jetzt, in diesem Sekundenbruchteil, nutzte sie die Kraft ihres linken Beines, um sich nach rechts zu werfen und aus dem Schrank zu springen und gleichzeitig die Tür zuzuschlagen.
Hastig zeichnete sie ein X in die Luft und rief: »Nauthiz!« Da leuchtete die Rune auf der Schranktür hell auf. Nicht rot wie Feuer, sondern blauweiß wie Eis.
Sie wusste nicht, ob sie es richtig machte, aber es war genau das, was ihr Großvater getan hatte – oder zu tun versucht hatte. Die Tür schließen, die Rune zeichnen, den Namen sagen. Sie sprach ihn aus, wie ihr Großvater ihn ausgesprochen hatte.
Und Julian kam nicht hinter ihr hergesprungen.
Die Schranktür blieb geschlossen.
Die Stille war ohrenbetäubend.
Jenny drehte sich um und lief zur Treppe.
Er hat gelogen, dachte Jenny, während sie die Stufen hinaufrannte. Er hat die Spielregeln verändert und er hat gelogen. Manchmal kann man Böses nicht mit Gutem vergelten, manchmal musste man das Böse einfach aufhalten.
All das hatte sie natürlich von Anfang an im Sinn gehabt, von dem Moment an, als sie vorgegeben hatte, bei Julian bleiben zu wollen. Sich selbst brauchte sie nichts zu erklären.
Nur den flüsternden, klagenden Stimmen in ihrem Kopf, die sie anflehten, zurückzukehren.
Die Morgendämmerung tauchte das Fenster des Türmchens in ein rosafarbenes Licht, als sie in den Raum hineinplatzte. Durch den Türspalt drang reinstes, blasses Rosa mit einigen duftigen weißen Wolken darin. Die Aussicht darauf wurde nur durch die fünf Personen versperrt, die um die Tür herumstanden.
Fünf. Sie alle. Mit Dee hatte sie gerechnet – sie kannte Dee. Um Tom hatte sie sich Sorgen gemacht; sie wollte, dass er verstand, aber noch mehr wollte sie, dass er durch diese Tür schritt. Sie hatte gehofft, dass Zach wütend genug sein würde, um zu gehen – und Audrey vernünftig genug. Michael, so hatte sie angenommen, würde so schnell verschwinden wie ein Blitz.
»Geht!«, rief sie, während sie auf sie zurannte. Ein Blick auf die Standuhr zeigte ihr, dass der verschnörkelte Minutenzeiger
schon viel zu weit über zehn nach sechs hinausragte. »Geht!«
Toms Gesicht erhellte sich mit einem Schlag so sehr, dass Jenny die letzten fünf Schritte geradezu flog. »Macht schon!«, sagte er zu den anderen und griff nach Jenny.
Doch das war leichter gesagt als getan. Denn draußen vor der Tür war –
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