Die Gejagte
zum Keller niemals öffnen und herunterkommen oder auch nur hereinschauen würden, bevor sie das Schattenhaus verließen. Julians Warnung, dass er keine Gesellschaft wolle, reichte vollkommen aus. Sie alle wussten, wozu er fähig war.
Sie blickte zu ihm auf und stellte fest, dass er sie anschaute.
So nah. Seine Augen hatten die Farbe eines wunderschönen Morgens im Mai.
Sehr tief, aber sehr sanft.
Sie konnte seinen Hunger spüren.
Und sie konnte spüren, wie sie selbst leicht zitterte. Ihre Nerven vibrierten vor Aufregung – und Furcht. Aber er berührte sie nicht. Er sah sie nur an, mit einem Gesichtsausdruck, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Ein Ausdruck des Staunens. Und der Zärtlichkeit. Eine Zärtlichkeit, die er bis jetzt nur an den Tag gelegt hatte, als er sich für Zach ausgab.
»Hast du Angst?«, fragte er.
»Ein wenig.« Sie versuchte, sich nichts weiter anmerken zu lassen, und fügte lässig hinzu: »Du bist also der jüngste Schattenmann.«
»Und der netteste.«
»Das glaube ich«, erwiderte Jenny ernsthaft.
Jetzt berührte er sie doch, seine Finger leicht auf ihrem Haar. Jenny spürte die kleine innere Stille, diese veränderte Wahrnehmung, bevor eine Reaktion folgt. Sie schloss die Augen und befahl sich, nicht nachzudenken, nichts anderes zu fühlen als seine federleichte Berührung. Je leichter sie wurde, desto mehr spürte sie ihre eigene innere Bewegung.
Dann war es plötzlich vorbei. Sie öffnete überrascht die Augen – und war noch überraschter, den Zorn in seinen Zügen zu sehen.
Für einen Moment hatte Jenny wirklich Angst, und mit voller Wucht spürte sie das ganze Ausmaß dessen, was sie
hier tat. Dann sah sie, dass Julian nicht auf sie zornig war, sondern – um ihretwillen.
»Du bist so – unschuldig«, sagte er. »Dein Freund, dieser – Tommy, so verwöhnt, so angeberisch –, er hat nie an dich gedacht, nicht wahr? Nur an sich selbst. Und er hat es vermasselt. Am liebsten würde ich ihn umbringen.«
Das war ganz und gar nicht das, worüber Jenny nachdenken wollte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, sprach Julian schon weiter, seine Augen erfüllt von einem wilden blauen Licht.
»Auch auf deinen Cousin solltest du ein Auge haben. Er denkt wirklich an dich, weißt du. Das hat mich das Leben gelehrt.«
Jenny wusste, dass es vollkommen unpassend war, aber sie konnte nicht an sich halten und brach in ein leicht hysterisches Gelächter aus.
»… du bist eifersüchtig«, sagte sie, als sie wieder Luft bekam. »Auf Zach. Aber Zach mag keine Menschen, nur Objektive und das Motiv davor.«
Der dunkle Ausdruck verschwand und Julians Züge erhellten sich wieder. »Es spielt auch keine Rolle«, erwiderte er. »Er wird nicht in der Lage sein, hier an dich heranzukommen. Niemand wird dazu in der Lage sein, niemals. Ich werde dich beschützen …«
Jenny streckte die Hände nach ihm aus und drückte ihre Lippen ganz leicht auf seine. Da vergaß er das Reden und erwiderte ihren Kuss – so sanft, dass Julians Lippen kaum die ihren berührten.
Aber aus den sanften Küssen wurden fiebrige Küsse, glühend heiße Küsse. Und während sie sich an ihn klammerte, hatte sie immer noch Angst vor ihm – stimmte es, dass die Furcht ein Teil der Leidenschaft war? Wo immer er sie berührte, spürte sie Eis und Feuer.
Die Uhr, die nicht länger unsichtbar war, schlug sechs.
Jenny löste sich widerstrebend von Julian. »Ich muss Luft holen«, flüsterte sie atemlos. Sie schüttelte sich ein wenig, dann stand sie auf. »Alles geschieht so schnell.«
Er lächelte. Sie ging umher, schöpfte tief Atem und spürte, wie sich ihre erhitzten Wangen langsam abkühlten. Sie konnte ihn jetzt nicht ansehen, sie musste erst ihre Fassung wiedererlangen. Fast ohne danach zu sehen, betastete sie das Kobaltarmband auf dem Regal.
»Warum hast du mich eigentlich aus meinem Albtraum entkommen lassen?«, fragte sie abrupt. »Aus sentimentalen Gründen?«
»Ganz und gar nicht.« Er lachte. »Ich habe das Spiel tatsächlich fair gespielt. Ich lüge nicht, auch wenn ich manchmal – Informationen zurückhalte. Dein Albtraum war die Erinnerung an das, was an jenem Tag geschehen ist. Du konntest es nicht sehen, aber die Tür ist bereits in dem Moment erschienen, als du dich daran erinnert hast, den Wandschrank geöffnet zu haben.«
»Oh«, sagte Jenny leise. »Der Schrank.« Dann fügte sie hinzu: »Was wollte er von euch? Mein Großvater?«
»Was alle anderen auch wollen. Macht, Wissen –
Weitere Kostenlose Bücher