Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
sich zu wehren. Marcel hatte auf den ersten Blick erkannt, dass sie, genau wie er selbst, nur darauf wartete, sich aus diesem Sumpf herauszuziehen. »Mein Gehalt ist zum Weinen, es wird Zeit, es zum Lachen zu bringen«, hatte sie neun Monate, nachdem er sie eingestellt hatte, erklärt. Er hatte ihrer Bitte entsprochen, und besser noch: Er hatte aus ihr eine listige, kluge, ebenso füllige wie raffinierte Gefährtin gemacht. Nach und nach hatte sie alle anderen Geliebten verdrängt, die ihn über seine triste Ehe hinwegtrösteten. Und er hatte es
nicht bereut. Bei Josiane kannte er keine Langeweile. Was er bereute, war, Henriette geheiratet zu haben. Diesen vertrockneten Zahnstocher. Dieses verklemmte, verschwenderische Biest, das sein Geld mit beiden Händen zum Fenster rauswarf, aber selbst nicht das Geringste gab, weder von ihrem Körper noch von ihrem Herzen. Was war ich doch für ein Idiot, dass ich die geheiratet hab! Ich dachte, für mich wäre es ein gesellschaftlicher Aufstieg. Toller Aufstieg! Die Frau ist nie übers Erdgeschoss hinausgekommen.
»Marcel, hörst du mir zu?«
»Aber ja doch, Choupette.«
»Die Zeit der Spezialisten ist vorbei! Die gibt es in jeder Firma zuhauf. Was wir jetzt wieder brauchen, sind Allrounder, geniale Allrounder. Und dieser Chaval ist ein genialer Allrounder!«
Marcel Grobz lächelte.
»Ich bin selbst ein genialer Allrounder, vergiss das nicht.«
»Und genau deswegen liebe ich dich, Marcel!«
»Erzähl mir von ihm …«
Und während Josiane ihm das Leben und die Laufbahn dieses Angestellten schilderte, den er selbst bislang kaum wahrgenommen hatte, kehrte Marcel Grobz zurück in seine eigene Vergangenheit. Jüdische Eltern, Emigranten aus Polen, die sich im Pariser Bastille-Viertel niedergelassen hatten, der Vater Schneider, die Mutter Wäscherin. Acht Kinder. In zwei Zimmern. Wenig Zärtlichkeit, viele Ohrfeigen. Wenig Süßigkeiten, viel trockenes Brot. Marcel hatte sich ganz allein hochgearbeitet. Er hatte sich an einer einfachen Schule für chemische Berufe angemeldet, um einen Abschluss zu haben, und anschließend eine Stelle in einer Kerzenzieherei gefunden.
Dort hatte er alles gelernt. Der kinderlose Besitzer hatte ihn ins Herz geschlossen. Er hatte ihm das nötige Geld geliehen, damit er eine in finanzielle Schwierigkeiten geratene Firma kaufen konnte. Dann eine zweite … Sie sprachen abends darüber, wenn die Fabrik geschlossen war. Er beriet ihn, machte ihm Mut. Und so war Marcel zu einem »Sanierer« geworden. Er liebte es, marode Firmen aufzukaufen und sie anschließend mit seinem Können und seiner Arbeitskraft wieder auf die Beine zu bringen. Er erzählte gern, dass er oft beim Schein einer Kerze einschlief und wieder aufwachte, ehe sie vollständig
heruntergebrannt war. Er erzählte auch, dass ihm all seine Ideen beim Spazierengehen gekommen waren. Er wanderte durch die Straßen von Paris, beobachtete die kleinen Ladenbesitzer hinter ihrer Kasse, die Auslagen, die Waren, die auf die Bürgersteige hinausquollen. Er belauschte die Gespräche der Menschen, hörte ihr Schimpfen, ihr Seufzen und erriet so ihre Träume, ihre Nöte, ihre Wünsche. Lange vor allen anderen hatte er erkannt, dass die Menschen zunehmend das Bedürfnis hatten, sich in ihr Heim zurückzuziehen, hatte die wachsende Angst vor der Außenwelt, vor dem Fremden gespürt. »Die Welt wird immer bedrohlicher, die Menschen wollen sich zu Hause verkriechen, in ihrer Wohnung, und dazu brauchen sie Accessoires wie Kerzen, Tischsets, Teller oder Topfuntersetzer«. Er hatte beschlossen, seine ganze Energie auf Einrichtungsgegenstände zu konzentrieren. Casamia. So hieß die Kette mit Niederlassungen in Paris und in der Provinz. Erst eines, dann zwei, drei, fünf, sechs, neun bereits bestehende Einrichtungshäuser waren so in Casamia-Filialen umgewandelt worden, wo es Duftkerzen, Tischdekoration, Lampen, Sofas, Bilderrahmen, Raumdüfte, Gardinen, Vorhänge und Zubehör für Bad und Küche zu kaufen gab. Alles zu günstigen Preisen. Hergestellt im Ausland. Er war einer der Ersten gewesen, der Fabriken in Polen, Ungarn, China, Vietnam und Indien errichtet hatte.
Doch eines Tages, eines verfluchten Tages, hatte ein Großlieferant zu ihm gesagt: »Ihre Sachen sind sehr gut, Marcel, aber die Dekoration in Ihren Läden könnte etwas mehr Stil vertragen! Sie sollten eine Dekorateurin einstellen, die dem Ganzen eine einheitliche Präsentation verleiht, ein gewisses Etwas, das Ihre ganze Firma aufwerten
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