Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Zeitschrift, kratzte sich an der Hüfte und las weiter.
Philippe hatte seinen Sohn von der Schule abgeholt. Montags endete Alexandres Unterricht um halb sieben. Er hatte zusätzliche Englischstunden. Englisch+ hieß das, und Alexandre war sehr stolz darauf. »Ich verstehe alles, Papa, absolut alles.« Sie gingen zu Fuß nach Hause und unterhielten sich dabei auf Englisch. Das war ihr neues Ritual. Kinder sind konservativer als wir Erwachsenen, dachte Philippe, als er die Finger um Alexandres Hand schloss. Er verspürte ein sanftes, intensives Glücksgefühl und zog diese Spaziergänge häufig in die Länge. Ich bin so froh, dass ich noch rechtzeitig erkannt habe, dass ich dabei war, seine ganze Kindheit zu versäumen!
Alexandre erzählte ihm gerade, dass er beim Fußballspielen zwei Tore hintereinander geschossen habe, als Philippe an der Scheibe seines Zeitungskiosks die Zeitschrift mit Iris auf der Titelseite entdeckte. Er machte einen Umweg, damit Alexandre nichts bemerkte. Sie gingen hinauf in die Wohnung, doch an der Tür schlug sich Philippe gegen die Stirn und sagte: »Oh my God! I forgot to buy Le Monde ! Go ahead, son, I’ll be back in a minute …«
Er ging wieder nach unten, kaufte die Zeitschrift, las den Artikel auf dem Weg zurück nach oben, steckte das Heft in die Manteltasche und dachte nach.
Hortense und Zoé kamen zusammen von der Schule nach Hause. Das machten sie nur einmal in der Woche, und Zoé nutzte diese Gelegenheiten, um das distanzierte, hochmütige Verhalten zu üben, zu dem ihre Schwester ihr geraten hatte, wenn sie die Männer in ihren Bann ziehen wollte. Es fiel Zoé nicht leicht, aber Hortense gab sich
große Mühe, es ihr beizubringen. Das ist der Schlüssel zum Erfolg, Zoélinchen. Los! Streng dich an! Zoé hatte den Eindruck, dass sie im Ansehen ihrer Schwester gestiegen war, seit sie ihr DAS Geheimnis verraten hatte. Hortense war seitdem viel netter zu ihr und auch nicht mehr so fies zu Hause. Eigentlich war sie fast gar nicht mehr fies, dachte Zoé, während sie den Rücken durchdrückte, wie es ihre Schwester von ihr verlangte.
Da entdeckten sie das Bild ihrer Tante als Aufmacher auf dem Cover einer Zeitschrift, dazu ein kleines Foto von ihr mit Gary. Wie angewurzelt blieben sie stehen.
»Wir lassen uns nichts anmerken, Zoé, wir bewahren Haltung«, erklärte Hortense.
»Aber wir kommen doch nachher zurück, wenn uns niemand sieht, und kaufen die Zeitschrift …«
»Nicht nötig. Wir wissen doch, was drinsteht!«
»Bitte, Hortense!«
»Haltung bewahren, Zoé, wir bewahren Haltung, egal, was passiert.«
Und Zoé ging am Kiosk vorbei, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Iris schämte sich und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Sie war vielleicht etwas übers Ziel hinausgeschossen, als sie die Bilder anonym der Zeitschriftenredaktion zugeschickt hatte. Sie hatte es als harmlosen Scherz gemeint, hatte gedacht, es würde ein wenig Aufsehen erregen und sie wieder ins Gespräch bringen … doch die Reaktion ihrer Mutter war eindeutig: Sie stand im Zentrum eines ausgewachsenen Skandals.
Sie saßen zu dritt beim Abendessen. Alexandre war der Einzige, der redete. Er erzählte, wie er beim Fußballspielen drei Tore hintereinander geschossen hatte.
»Eben waren es noch zwei Tore, Alexandre. Man darf nicht lügen, Schatz. Das gehört sich nicht.«
»Zwei oder drei, ich weiß nicht mehr genau, Papa.«
Nach dem Essen faltete Philippe seine Serviette zusammen und sagte: »Ich glaube, ich fahre mit Alexandre für ein paar Tage nach
London zu meinen Eltern. Er hat sie schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, und die Februarferien fangen ohnehin bald an. Ich rufe in der Schule an und sage Bescheid …«
»Kommst du nicht mit, Maman?«, wollte Alexandre wissen.
»Nein«, antwortete Philippe. »Maman hat im Moment viel zu tun.«
»Immer noch das Buch?«, fragte Alexandre seufzend. »Ich hab die Nase voll von diesem Buch.«
Iris nickte und wandte den Kopf zur Seite, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen stiegen.
Gary fragte, ob er das letzte Stück Baguette haben könne, und Jo reichte es ihm mit trübem Blick. Die beiden Mädchen sahen schweigend zu, wie er den Rest Ratatouille auftunkte.
»Was guckt ihr denn so?«, fragte er, nachdem er das Brot aufgegessen hatte. »Ist es wegen der Fotos in dieser Zeitschrift?«
Erleichtert sahen sie sich an. Er wusste Bescheid.
»Stört euch das etwa?«
»Schlimmer«,
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