Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
Heim ein, während Ginette, René und alle übrigen Angestellten der Firma Grobz in den schneeweißen Falten standen, mit vollen Händen Reis warfen und ihm zu Ehren ein Lied anstimmten: »Si j’étais un charpentier, si tu t’appelais Marie, voudrais-tu alors m’épouser et porter notre enfant?«
Johnny, der große Johnny Hallyday, hatte nicht selbst kommen können, aber Ginette sang mit ihrer schönen Backgroundstimme alle Strophen, während Josiane Tränen auf das Spitzenmützchen ihres Sohnes vergoss und Marcel dem Himmel für so viel Glück dankte und die neugierigen Passanten aufklärte, die sich fragten, ob da eine Hochzeit, eine Geburt oder vielleicht sogar eine Beerdigung gefeiert wurde.
»Alle drei zugleich«, jubelte Marcel. »Ich habe eine Frau, ich habe ein Kind, und ich begrabe viele unglückliche Jahre; von jetzt an hängt der Himmel für mich voller Mandeldragees!«
»Woran denken Sie, Joséphine?«
»Ich denke daran, dass ich seit beinahe sechs Monaten fast jeden Nachmittag in Ihren Armen liege …«
»Kommt Ihnen die Zeit lang vor?«
»Die Zeit vergeht wie im Flug …«
Sie wandte sich Luca zu, der auf einen Ellbogen gestützt neben ihr lag, sie betrachtete und einen Finger über ihre nackte Schulter gleiten ließ. Sie schob seine widerspenstige Haarsträhne zurück und küsste ihn.
»Ich muss gehen«, seufzte sie, »dabei würde ich am liebsten für immer hierbleiben …«
Die Zeit vergeht wirklich wie im Flug, dachte sie später, als sie hinter dem Steuer ihres Wagens saß. Ich habe das nicht nur so gesagt. Alles geht so schnell. Gary hatte recht gehabt: Als die Kinder nach den Ferien auf Mustique goldbraun wie kleine Nektarinen zurückgekommen
waren, war das Leben ganz normal weitergegangen. Niemand hatte mehr von dem Artikel gesprochen.
Eines Tages war sie bei Iris zum Mittagessen gewesen. Philippe und Alexandre waren in London. Sie flogen immer häufiger dorthin. Hatte Philippe beschlossen, sich dort niederzulassen? Sie wusste es nicht. Sie redeten nicht mehr miteinander, sie sahen sich nicht mehr. Und das ist auch besser so, sagte sie sich jedes Mal, wenn sie an ihn dachte. Carmen hatte ihnen das Essen in Iris’ Arbeitszimmer serviert.
»Warum hast du das gemacht, Iris? Warum?«
»Ich dachte, es wäre witzig. Ich wollte, dass die Leute wieder über mich reden … Und ich habe alles vermasselt! Philippe geht mir aus dem Weg, ich musste Alexandre erklären, dass es bloß ein schlechter Scherz war, und in seinem Blick lag dabei so viel Abscheu, dass ich ihm nicht in die Augen sehen konnte.«
»Hast du ihnen die Fotos geschickt?«
»Ja.«
Wieso reden wir überhaupt noch darüber?, dachte Iris matt. Wieso soll ich mir noch Gedanken darüber machen? Ich habe mich schon wieder so blöd angestellt und mich erwischen lassen. Ich war noch nie in der Lage zu begreifen, was in mir vorgeht, ich habe nicht die Kraft dazu, und wenn ich sie hätte, würde es mich wirklich interessieren? Ich glaube nicht. Ich verstehe weder mich selbst noch die anderen. Ich stehe abseits, weit weg von allen anderen. Ich kann mich niemandem anvertrauen, ich weiß nicht, wie man jemandem vertraut. Ich finde nie jemanden, mit dem ich reden könnte, ich habe keine echte Freundin. Bis jetzt hat das immer ganz gut funktioniert. Ich lebte vor mich hin, ohne nachzudenken, das Leben war einfach und angenehm, etwas widerlich süß manchmal, aber eben bequem. Mein Leben war ein Glückspiel, und das Glück war mir lange hold. Doch jetzt ist es das plötzlich nicht mehr. Sie erschauerte und schmiegte sich tiefer in ihr großes Sofa. Das Leben geht an mir vorbei, und ich lasse das einfach zu. Aber so geht es vielen Menschen, ich bin nicht die Einzige, die nach etwas greift, das sich ihr immer wieder entzieht. Ich weiß nicht einmal genau, was es ist. Ich weiß es nicht …
Sie betrachtete ihre Schwester. Die ernste Miene ihrer Schwester.
Sie weiß es. Und ich habe keine Ahnung, wie sie das schafft. Meine kleine Schwester ist erwachsen geworden …
Endlich nicht mehr grübeln müssen. Bald kommt der Sommer, und dann fahren wir in unser Haus nach Deauville. Alexandre wird immer älter. Philippe kümmert sich jetzt um ihn. Darüber brauche ich mir keine Gedanken mehr zu machen. Sie lächelte innerlich. Um ihn habe ich mir doch noch nie Gedanken gemacht, ich denke immer nur an mich. Du machst dich bloß lächerlich, wenn du versuchst zu denken, Liebes, deine Gedanken haben weder Hand noch Fuß, sie reichen nicht
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