Die gelben Augen der Krokodile: Roman (German Edition)
sie davon keine Ausnahme. Sie erledigte, was bei Madame Lelong zu erledigen war, und verließ die Bank. Gilles hatte bereits die Tür der Limousine für sie geöffnet, doch sie wies ihn an, auf sie zu warten, sie habe noch etwas zu erledigen, wofür sie den Wagen nicht benötige. Zu Fuß ging sie einmal um den Block, um ihre Gedanken zu ordnen. Sie musste dringend nachdenken, sich einen Überblick über die neue Situation verschaffen. An die Gefügigkeit ihres Opfers gewöhnt, hatte sie beim Kauf der Firma Zang Dokumente unterzeichnet, ohne sie überhaupt zu lesen. »Ein Fehler«, schimpfte sie laut, während sie energisch voranstöckelte, »so ein blöder Fehler.« Ich habe mich in meiner komfortablen Situation einlullen lassen, und er hat mich eiskalt über den Tisch gezogen. Ich dachte, ich hätte dieses Tier im Griff, aber es wehrt sich noch. Jetzt gilt es, das Steuer herumzureißen. Freundlich mit ihm zu reden und die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Obwohl sie das Wort »freundlich« nicht einmal laut aussprach, ließ es sie vor Abscheu erschauern, und Hass verzerrte ihren Mund. Was bildete sich dieser widerliche Fettwanst eigentlich ein? Sie hatte ihm alles beigebracht: ein Schaufenster zu dekorieren und die Gabel richtig zu halten. Ohne sie wäre er ein Nichts. Ein unbedeutender Krämer! Ihr verdankte er Glanz, Schliff und gute Manieren. Bis zum simpelsten Bleistifthalter trug alles, was er verkaufte, ihr Markenzeichen. Mir verdankt er sein Vermögen, stellte sie nach der ersten Runde fest. Also steht es mir auch zu. Mit jedem Schritt wuchs ihr Hass. Wuchs im gleichen Maße wie ihre Enttäuschung. Sie hatte geglaubt, im sicheren Hafen zu liegen, und dieser Prolet schnitt einfach die Halteleinen durch! Ihr gingen die Worte aus, um ihn zu beschimpfen, und schwungvoll glitt sie den sanften Abhang
des Grolls hinab. Doch hundert Meter weiter blieb sie abrupt stehen. Die widerliche Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Sie war von ihm abhängig! Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Eruptionen ihres verletzten Stolzes zu unterdrücken und ihre Rachegelüste zu zügeln. Getrennte Konten, das Ersparte dahin, was blieb ihr dann noch? Sie zischte einige Verwünschungen, versetzte ihrem Hut, der davonzufliegen drohte, einen Klaps, setzte zu ihrer zweiten Runde um den Häuserblock an und zwang sich, ruhig nachzudenken. Sie durfte sich nicht zu kleinlicher Rache hinreißen lassen, sondern musste das große Ganze im Auge behalten, sich einen Anwalt nehmen, notfalls auch zwei, ihre alten Verträge heraussuchen, fordern, toben … Vor einer Toreinfahrt blieb sie stehen. Kann ich mir das überhaupt noch leisten? Wahrscheinlich hat er kein Schlupfloch vergessen, er ist ja nicht auf den Kopf gefallen. Normalerweise legt er sich mit korrupten Russen und hinterhältigen Chinesen an. Früher reichten mir kleine Demütigungen, ich piesackte ihn mit beharrlichen Sticheleien, das war mein liebster Zeitvertreib, und ich hatte ihn auch schon fast erledigt. Sie seufzte wehmütig. Sie musste sich Gewissheit verschaffen, schauen, ob sich nicht doch noch eine verwundbare Stelle aufspüren ließ, ehe sie eine Entscheidung traf. Eine letzte Blockumrundung verbrachte sie mit Selbstvorwürfen. Ich wusste doch, dass er nicht mehr zu Hause schlief, sein Bett war unbenutzt, aber ich dachte, er hätte eine letzte schäbige Affäre mit einer Stripperin, während er in Wirklichkeit vorhatte, das Nest zu verlassen! Stille Wasser sind tief, man sollte sich vor ihnen hüten, selbst wenn sie seit Jahren unterworfen scheinen. Marcel hatte noch Leben in sich. Was nützt es mir jetzt noch, mir neue Gemeinheiten auszudenken, wenn meine Pfeile nicht mehr treffen? Sie ließ sich erneut gegen eine Toreinfahrt sinken und wählte Chefs Handynummer.
»Ist es diese Natacha?«, fragte sie ohne jede Einleitung. »Hat die dahergelaufene Schlampe dir ein Kind angehängt?«
»Kalt, eiskalt!«, jubilierte Marcel. »Es ist Josiane Lambert. Meine zukünftige Frau. Die Mutter meines Kindes. Die Liebe meines Lebens. Mein Sonnenschein …«
»Mit sechsundsechzig, das ist doch lächerlich.«
»Nichts ist lächerlich, meine liebe Henriette, wenn die Liebe spricht …«
»Liebe! Du sprichst von Liebe, dabei ist die doch nur scharf auf dein Geld!«
»Ach, Henriette, jetzt wirst du gewöhnlich! Wenn der Lack ab ist, kommt ganz schnell das wahre Ich zum Vorschein, was? Und was das Geld angeht, mach dir deswegen mal keine Sorgen, ich lass dich schon nicht nackt auf
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