Die Gelehrten der Scheibenwelt
ordentliche Reptilienschuppen; es mag erstaunlich klingen, aber kein moderner Vogel besitzt Strukturen auf halbem Wege zwischen Federn und Schuppen, obwohl ihre fernen Vorfahren ganz mit Schuppen bedeckt waren. Wahrscheinlich – genau kann man es bei den sehr alten Fossilien nicht sagen. Schuppen sind – und waren vermutlich bei jenen Vorfahren – Fleckchen von Keratin, den Fingernägeln sehr ähnlich; manchmal überlappen sie sich wie Dachziegel. Federn sind Zylinder, die in Follikeln (Federbälgen) stecken, tiefen Gruben in der Haut. Etwa einen Millimeter vom unteren Ende entfernt weisen sie einen Ring von sich teilenden Zellen auf, der ›Federkragen‹ heißt und den Zylinder erzeugt, indem er ihn nach außen wachsen läßt. Während sich die Erzeugnisse in dem Follikel entlangbewegen, richten sie die ganze Produktivität der Zellen auf die Herstellung von Keratin, des Proteins von Horn, Nägeln, Haaren und Federn. Und die Zylinderwand verhornt in einem seltsamen Muster.
Die Seite der Feder, die am Vogel nach hinten zeigt, bringt Furchen hervor, die auf beiden Seiten des Zylinders zur Vorderseite herumlaufen und in den Follikel eintauchen, so daß sie fast parallel zur Längsrichtung des Zylinders verlaufen. Sie treffen sich nicht ganz, und das Gewebe zwischen ihren unteren Enden wird zum Schaft der Feder. Die andere Seite spaltet sich auf, und die Federäste – zwischen den Furchen – entfalten sich, um die Federfahne zu bilden. Sie sind viel länger als der Zylinderumfang, so daß eine schmale Stoppelfeder eine Feder mit breiter Fahne hervorbringen kann.
Das ähnelt nicht im mindesten einer Schuppe. Und ist viel komplizierter. Die Evolution hatte zu arbeiten, um auf Federn zu kommen.
Und sie müssen sich mit gutem Grund entwickelt haben, denn viele Dinosaurier besaßen Federn in verschiedenen Ausführungen. Manche glichen Daunenfedern, andere eher Zahnbürsten oder Staubwedeln. Sie könnten sich zum Schutz gegen Kälte entwickelt haben. Erwachsene Velociraptoren und junge Tyrannosaurier waren vielleicht in Daunen gehüllt wie Küken. Der Paläontologe Mark Norell sagt: ›Wir verfügen über ebensogute Indizien dafür, daß Velociraptoren Federn besaßen, wie darüber, daß die Neandertaler Haare hatten.‹ Andere Wissenschaftler stimmen dem jedoch nicht zu.
Vielleicht waren es sexuelle Verzierungen. Höchstwahrscheinlich sind wir noch nicht auf die Funktion gekommen, die sie hatten.
Soviel zu den Geschichten, daß ›manche Reptilien Federn bekamen und zu Vögeln wurden‹.
Hier liegt ein sehr allgemeines Problem, und die Zauberer haben dieses Problem andauernd. Das Gesamtmuster der Evolution von, sagen wir, Vögeln oder Tyrannosauriern sieht sehr sinnvoll aus. Aber auf tieferer Ebene, unterhalb der ›Geschichte nach dem gesunden Menschenverstand‹, den die Zauberer auf die Rundwelt anzuwenden versuchen, verstehen wir es nicht. Wir ersinnen Geschichten, die es erklären können, das schon, aber das bedeutet nicht verstehen.
Eigentlich sind wir uns nicht einmal ganz sicher, was es im wissenschaftlichen Sinne überhaupt bedeutet. Wir wissen, daß anscheinend ganz gewöhnliche historische Ereignisse ›in Stücke fallen‹, wenn man versucht, sie aus mehreren verschiedenen Richtungen zu analysieren. Die Ermordnung von John F. Kennedy ist ein perfektes Beispiel: Die Kugeln scheinen aus unterschiedlichen Richtungen gekommen zu sein, und es scheint keine einzige widerspruchsfreie Geschichte zu geben, die es erlaubte, verstehen zu können, was geschah. Wir können die Ereignisse beschreiben, doch die ihnen zu Grunde liegenden Kausalitäten passen nicht zusammen, wie in der Physik Quanten- und Relativitätstheorie.
Die Evolution geschieht nicht einfach immer nur einem Wesen. Das gesamte Ökosystem entwickelt sich, und im Laufe dieser Entwicklung kann es sich für einen begrenzten Zeitraum und ein begrenztes geographisches Gebiet als nützlich erweisen, neue Tricks zu verwenden. Bei ein paar dieser Tricks zeigt sich, daß sie nützliche Wirkungen haben, die sich ziemlich von den ›Gründen‹ unterscheiden, aus denen sie sich ursprünglich entwickelten, und diese Wirkungen können weiterhin nützlich sein, nachdem der ursprüngliche Grund für ihr Auftreten längst nicht mehr gilt.
In diesem Rahmen nimmt es nicht wunder, daß historische Ereignisse, die soweit zurückliegen wie die Entstehung von Federn oder Vögeln, im Einzelnen auch keinen Sinn ergeben. Und darum können wir uns nicht vorstellen,
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