Die Geliebte des Gelatiere
Kraft aufbot, gelang es mir nicht, mich zu befreien, sie davon abzuhalten, mich mit dem Hintern voran in den Papierkorb hineinzustoßen, bis ich wie ein Klappmesser drinsteckte, zusammengequetscht, mit den Füßen und dem Kopf über dem Rand, dem Rest im Korb, unfähig, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Ich war auf eine Weise in den Papierkorb gepresst, dass ich ihn ganz ausfüllte und fast sprengte, aber er hielt dem Druck stand und umfasste mich, wie ein Gefangener in einer Tonne steckte ich im Korb, so eingeklemmt, dass ich kaum atmen konnte, »aufhören! aufhören!«, wollte ich schreien, aber ich hatte keine Luft, kein Laut kam mir über die Lippen, ich meinte zu ersticken, während die Menge um mich herum immer lauter grölte und mich wie eine Trophäe oder einen Außerirdischen anstarrte, wie gelähmt steckte ich in diesem Korb, jeder Atemzug eine Qual, jeder Versuch einer Bewegung vergebens. Ich hatte keine Chance, ohne fremde Hilfe kam ich nicht mehr aus meinem Gefängnis heraus, aber die Meute wollte noch mehr, sie wollte die Sache noch weitertreiben, und während draußen die Glocke schellte, um die nächste Stunde anzukündigen, brüllte Pietro plötzlich, »aufs Lehrerpult! aufs Lehrerpult!«, und starke Hände hoben mich nun im Korb in die Höhe, trugen mich nach vorne ins Zimmer auf das Lehrerpult, wo man mich ächzend abstellte und in Richtung der Klasse drehte, so dass ich dem in Kürze eintretenden Lehrer genau ins Gesicht blicken würde. »Sant’Alvise! Sant’Alvise! unser geliebter Sant’Alvise!«, tönte es nun durchs Klassenzimmer, als wäre ich der Schutzpatron der studierenden Jugend und nicht jener Jesuit aus Gonzaga, der Kranke pflegte und dann daran starb, es war ein Grölen und Jaulen und Lachen, dass ich mir, hätte ich es gekonnt, die Ohren zugehalten hätte, und das Spotten und Necken aus den Bänken wollte nicht aufhören, »unser liebster, herrlichster Alvise! Santo! Santo! Alvise! Alvise! Weise! Weise!«, und ich schloss die Augen, um nicht in fünfundzwanzig höhnische Augenpaare blicken zu müssen, und versuchte Luft zu schöpfen. Wäre alles nicht so schmerzhaft und peinlich gewesen, hätte ich vielleicht auch darüber gelacht, ich spürte, auch wenn es zum Weinen war, ein ersticktes, grimmiges Lachen in mir, das nicht wirklich zu mir gehörte, während alle lachten und nicht aufhören wollten zu lachen und meinen Namen zu verspotten, bis der Vorposten ins Klassenzimmer hereinstürmte und mit energischem Klatschen und dem Zeigefinger vor dem Mund den Englischlehrer ankündigte, worauf ein Raunen und Zischen durch die Klasse ging und es mit einem Schlag mucksmäuschenstill wurde. Die Tür ging auf, Professor Zennaro trat ahnungslos ins Zimmer, erblickte mich auf seinem Pult und zuckte zusammen. Die Klasse tobte.
5
Frühmorgens fuhren wir zum Bahnhof Santa Lucia – es war gegen sechs, und die Wolken am Himmel glühten rosarot. Beißende Kälte kam uns entgegen, der Wind schnitt hart ins Gesicht und ließ die Kleider flattern. Ich war in eine warme Jacke gehüllt, und mein Vater hatte sich eine Pelerine übergezogen. Er fuhr mich zur Stazione, damit ich den Frühzug nach Treviso erreichte. In der dortigen Kaserne war ich zur Aushebung aufgeboten.
Da mein Vater frei hatte, ließ er es sich nicht nehmen, mich selbst zum Bahnhof zu bringen. Als Kind hatte ich von ihm viele Male Geschichten aus seiner Dienstzeit zu hören bekommen, Geschichten von Abenteuern und Kameradschaft, von Auflehnung gegen stupide Offiziere, von Witz und Gewitztheit in Schützengräben oder auf irgendwelchen Ziegenpfaden. Ich hatte diese Geschichten so oft gehört, dass ich sie in- und auswendig kannte. Sie waren gut erzählt, trotzdem vermochten sie mich nie für das Militär zu begeistern. Die Gerüche, die Freunde bei ihrem Urlaub vom Dienst mit nach Hause brachten, diese Gerüche nach Schweiß und Patronen, stießen mich ab. Allein von den Gerüchen her wusste ich, dass das Militär nicht meine Welt war. Und ich konnte mir auch nicht vorstellen, auf Menschen zu schießen. Für meinen Vater war der Militärdienst etwas Großes, Hehres, Feierliches, er hatte ihn mit Enthusiasmus geleistet und war stolz, dass ich nun in seine Fußstapfen und in die Welt der Männer eintreten würde. Er hatte mich in den Tagen zuvor reichlich mit Tipps eingedeckt, mir probeweise seine Marschschuhe geliehen, damit ich mich an sie gewöhnen könne, und mit wehmütigen Augen von der Suppe aus der Gamelle, vom
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