Die Geliebte des Gelatiere
wütend. Wir duckten uns. Immer neue Brocken prallten gegen die Scheibe. Verängstigt schauten wir uns an. Aber das Glas hielt, und der stählerne Zug tuckerte weiter, als ob nichts gewesen wäre.
Die Steinwürfe setzten unserem Gespräch ein abruptes Ende. Bis Buffalo schwiegen wir.
»Weißt du«, hob Noemi nach Buffalo plötzlich an, » es war nicht ganz einfach für mich, mit dir auf diese Reise zu gehen. Ich hatte auch Zweifel, Respekt vor der Situation. Natürlich freute ich mich sehr und war erleichtert, dass die Familie nach Montana flog und sich so alles von alleine geregelt hat. Aber ich hatte auch Gewissensbisse – auf was lasse ich mich ein, was hat das zu bedeuten?«
»Das kann ich verstehen«, sagte ich.
»Eigentlich hätte ich diese Woche bei den Vereinten Nationen dolmetschen sollen. Ich stehe auf Abruf bereit, und sie wollten mich für eine Konferenz. Zum Glück sprang eine Freundin ein.«
Der Zug fuhr den Niagara River entlang. Ein Kraftwerk und riesige Strommasten säumten die Strecke.
»Und jetzt?«, fragte ich nach einer Weile. »Ich meine, bist du froh, dass wir zusammen zu den Fällen fahren, oder ist es dir immer noch nicht geheuer?«
Sie schaute mich unverwandt an.
»Ein wenig durcheinander bin ich schon. Aber ich finde es toll, dass wir diese Reise machen.«
Als wir in Niagara Falls ankamen, landeten wir im Niemandsland. Mitten im Nichts ein Gebäude, ein paar Baracken, ein Dutzend Gleise ohne Bahnsteig. Zwei gelbe Hocker, um auszusteigen. Von den Fällen und der Stadt keine Spur, nicht mal Taxis, um uns ins Hotel zu bringen. Wir schauten uns an. Pfützen, heruntergekommene Schuppen, Kies.
Eine Krähe hockte auf der Fahrleitung und stieß ärgerliche Laute aus. Rund um die drei abgetakelten orangefarbenen Schalensitze neben dem Gleis pickten Tauben Krümel. Der Wind pfiff über das Gelände. Niemand stieg aus; die meisten waren schon in Rochester oder Buffalo ausgestiegen, und die wenigen Passagiere, die noch im Empire saßen, fuhren weiter Richtung Toronto. Offenbar reiste man nicht mit dem Zug nach Niagara.
»Hm«, sagte ich.
Noemi versuchte zu lächeln, aber die Enttäuschung war ihr ins Gesicht geschrieben.
»Einen so hässlichen Ort habe ich noch nie gesehen. Aber warten wir ab. Die Fälle werden uns hoffentlich entschädigen.«
Nach einer Weile tauchte ein Taxi auf, und wir stiegen ein. Über eine hässliche Betonbrücke fuhren wir Richtung Stadt. Aber auch die Außenquartiere von Niagara Falls wirkten heruntergekommen.
Schließlich gelangten wir zum Hotel, einem wuchtigen Backsteinbau beim Prospect Point. Die Zimmer waren geschmacklos eingerichtet, verlottert und in jeder Weise vernachlässigt. Aber das war mir egal, ich spürte jetzt, ganz nahe am Ziel, so etwas wie Hochstimmung. Vielleicht war ich nach der langen Fahrt auch nur überdreht.
Nachdem wir das Gepäck auf unsere Zimmer gebracht und uns frisch gemacht hatten, gingen wir zu den Wasserfällen. Wir schlenderten zur säuberlich gepflegten Parkanlage, über der ein dumpfes Grollen lag. Die »donnernden Wasser« waren zu hören, noch bevor wir sie sahen. Ich spürte den feinen Wasserstaub in der Luft. Touristen gesellten sich zu einer Indianerskulptur und ließen sich fotografieren. Ein fetter Rabe stolzierte über das Gras und krächzte. Am Himmel hing ein Heißluftballon, und auf der kanadischen Seite glitzerte ein mächtiger Turm in der Sonne. Vorbei an Bänken und Blumenrabatten erreichten wir den Observation Tower.
Auf der Aussichtsplattform sahen wir endlich das tosende Wasser: die amerikanischen Bridal Veil Falls, dazwischen Goat Island und dahinter die kanadischen Horseshoe Falls. Senkrechte weiße Wände von ungeheurer Höhe. Der Niagara stürzte sich über eine gewaltige Kante in die Tiefe. Wie eine helle Rauchwolke aus Industrieschloten stieg feuchte Luft aus der brodelnden Hexenküche. Über dem tobenden Wasserschoß brach sich das Licht zu kräftigen Regenbögen. Der Lärm war ohrenbetäubend.
Mir verschlug es die Sprache. Ich hielt mich am Geländer fest, das bebte und zitterte, und rang nach Atem. Der Eindruck der schäumenden Wassermassen nahm mir die Luft. Eine ganze Weile standen wir am Geländer und schwiegen. Schwiegen in das Donnern hinein, das die Fälle von sich gaben. In den Schrecken, den sie verbreiteten, und die Schönheit.
Stumm sahen wir uns an. Noemi lächelte, und ihre Augen schlossen sich. Sie sog das Grollen ein, das Beben, den feinen Sprühregen.
»Weißt du, dass ich mir
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