Die Geliebte des Gelatiere
schwerer zugleich.«
»Das wäre wunderbar. Das musst du unbedingt tun.«
In Gedanken malte ich mir aus, wie ich in New York eine Gelateria eröffnete, um Noemi nahe zu sein. Wie ich die New Yorker mit amerikanischem und italienischem Eis in das Lokal lockte. Dann spürte ich ein heftiges Stechen im Bauch, und meine Träumereien verflogen, so schnell, wie sie gekommen waren. Jetzt bekam ich die Rechnung für meine Unvorsichtigkeit präsentiert. Ich konnte mir einfach nichts mehr erlauben.
»Ist dir nicht gut? Du siehst plötzlich so blass aus.«
»Es geht schon«, sagte ich und verzog mich, verärgert über mich selbst, auf die Toilette. Begann jetzt alles wieder von vorn, hatte ich nichts gelernt aus meinem Aufenthalt im Ospedale? Ich versuchte, zur Ruhe zu kommen, versuchte, langsam und tief in den Bauch hinein zu atmen. Panisch bespritzte ich meinen Kopf mit kaltem Wasser und sah mich im Spiegel an. Der Bauch gurgelte, gab seltsame Geräusche von sich. Nach einer Weile ließ das Stechen nach, die Blässe verflüchtigte sich.
Als ich zurückkam, umfasste Noemi mein Handgelenk.
»Fühlst du dich besser?«, fragte sie.
Ich nickte. Ihre Hand beruhigte mich, bereitete mir ein Gefühl von Wohlbehagen. Draußen tauchten große Strahler die Fälle in ein milchiges Licht. Kolorierte Scheiben vor den Scheinwerfern ließen sie in zarten Bonbonfarben erstrahlen. Unentwegt blitzten Kameras, und der helle Mondschein legte einen gespenstischen Zauber über das Ganze.
Die Lichtshow mit den Regenbogenfarben war pompös aufgezogen. Aber da ich den sanften Druck von Noemis Hand spürte, fand ich das Spektakel trotzdem schön.
»Glaubst du an die Schönheit?«, fragte Noemi unvermittelt. »Glaubst du daran, dass Schönheit uns zu besseren Menschen macht?«
Ich war verdutzt. Woher wusste sie, woran ich gerade dachte? Konnte sie sich so sehr in mich einfühlen? Oder war das nur Zufall?
»Wenn ich dich sehe, dann glaube ich ganz bestimmt an Schönheit. Schönheit verschafft ein berauschendes Gefühl.«
Sie lächelte.
»Du schmeichelst. Aber ich meine es ernst, Alvise: Was bleibt davon zurück? Ist es mehr als nur ein kurzes Gefühl? Ist es mehr als nur ein Hauch von etwas?«
»Vielleicht schafft Schönheit ja auch ein anhaltendes, tiefes Gefühl?«
Sie legte den Kopf ein wenig zur Seite und fuhr mit dem Finger um den Rand der Eisschale.
»Glaubst du denn an die Unvergänglichkeit von Gefühlen?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich glaubte gerne daran, aber natürlich war es auch möglich, dass das nur Fiktion war.
»Unvergänglich?«, fragte ich zurück, um Zeit zu gewinnen.
»Ja.«
»Dass sich gewisse Gefühle wiederholen und immer gleich bleiben?«
Sie nickte.
»Das ist eine schöne Vorstellung«, sagte ich, »eine, die mir sehr lieb ist und der ich mich gerne hingebe.«
Ich blickte hinüber zu den amerikanischen Bridal Veil Falls.
»Aber eigentlich«, fuhr ich fort, »ist nichts unvergänglich. Schau dir nur diese Fälle an. Sie scheinen unvergänglich, dabei zerstören sie sich selbst. Vor Tausenden von Jahren rauschten sie noch elf Kilometer weiter flussabwärts in den Ontariosee. Das Wasser hat in der Zeit eine lange Schlucht in das Gestein gefressen. Irgendwann aber wird die weichere, obere Gesteinsschicht abgetragen und nur noch die harte, untere da sein. Dann wird es keine Fälle mehr geben.«
Das Kinn in die Hand gestützt, schaute mich Noemi nachdenklich an. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich glaube, die Fälle werden immer da sein«, erwiderte sie. Ihre Bestimmtheit hatte mir schon immer gefallen. Vielleicht war es die Erinnerung an ihre Bestimmtheit, die mich all die Jahre gefesselt hatte.
Schließlich warf sie einen flüchtigen Blick auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht.
»Wollen wir aufbrechen?«
Ich half ihr in die Jacke, und ohne zu reden schlenderten wir über die Rainbow Bridge zurück auf die amerikanische Seite. Vielleicht hätte ich ihren Arm nehmen sollen. Den Prospect Park entlang gelangten wir durch verlassene Straßen zu unserem Hotel. Wir stiegen in den Lift und fuhren schweigend hoch zur letzten Etage, wo sich unsere Zimmer befanden. Der Fahrstuhl glitt langsam höher. Wie beiläufig berührten sich unsere Arme ein wenig. Sollte ich sie jetzt küssen? Aber ich traute mich nicht und verharrte wie eine Schildkröte.
Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich. Oben angekommen, standen wir verlegen im Gang. Gleich würde sie »Gute Nacht« sagen und in ihr Zimmer
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