Die Geliebte des Gelatiere
ich Glück hatte, blieb mir noch ein wenig Zeit, bevor ihre Familie nach Hause kam.
Ab und zu warf ich ihr einen scheuen Blick zu und ließ mich von ihrer Ausstrahlung bezaubern. Ihre Schönheit trug sie, als wäre sie das Normalste der Welt. Sie schien im Einklang mit sich selbst zu sein, ohne jede Affektiertheit und nach der Aufregung wieder ganz entspannt. Ihre zwanglose Art entspannte auch mich, es fühlte sich an, als glitte ich in ein warmes Bad.
»Was für eine schöne Gegend«, sagte ich.
Sie sah mich unverwandt an.
»Ja, Columbia County bietet großartige Landschaften, eine einzigartige Fauna und Flora. Zudem ist man in zwei Stunden in New York City.«
»Columbia County ist wunderbar«, sagte ich.
»Sind Sie hier im Urlaub?«
Ich stockte.
»Ja.«
Sprachlos schaute ich sie an. Und dann gingen mir endlich die Augen auf.
»Noemi …«
Sie kniff die Augen zusammen.
Wir starrten uns an, als hätten wir uns noch nie gesehen.
19
Utica, Rome, Syracuse hießen die Orte, die wir auf unserer Fahrt passierten. Ich fragte, ob wir auch noch nach Venice kämen. Noemi lachte und sagte, das liege in Kalifornien. Indianisches wie Mohawk, Mannahatta oder Niagara könne sie noch bieten – auf Venezianisches würde ich vergebens warten.
Zwischen den Orten lagen Sümpfe, Weiden, Wildnis. Auf einem schachbrettartigen Feld mitten im Niemandsland zog ein alter, verdreckter Traktor den Stallmiststreuer hinter sich her. Ab und zu sah man Pferde oder eine Kuhherde, rote Schuppen oder silbern glänzende Futtersilos, die an Phalli oder altmodische Raketen erinnerten. Noemi schaute mich an.
»Ich bin so froh«, sagte sie, »dass ich mir diesen Herzenswunsch erfüllen kann. Zum Glück ist Robert mit den Kindern für ein paar Tage nach Montana zu seinen Eltern geflogen.«
Ich legte das Buch über die Niagarafälle weg, in dem ich geblättert hatte, und schaute sie an.
»Du bist schon lange verheiratet?«
»Ja, Robert und ich kennen uns seit zehn Jahren.«
»Auch ein Einzelkind?«
»Nein, kein Einzelkind.«
Sie schaute mich scharf an, und damit war das Thema erledigt.
»Hättest du nicht auch gerne Kinder gewollt?«, fragte sie, während der Zug den Mohwak River entlangratterte.
Ich überlegte einen Augenblick lang.
»Ich weiß nicht. Die Partnerin für gemeinsame Kinder habe ich leider nicht gefunden. Oder schon, aber ich war noch zu jung dafür.«
Noemi lächelte etwas ratlos und blickte mich nachdenklich an.
»Vielleicht haben wir uns einfach zur Unzeit kennengelernt. Sprechen die Griechen nicht vom kairos, dem richtigen Augenblick, von dem alles abhängt?«
»Doch, Hesiod spricht vom rechten Moment. Und auch Homer.«
Wir lachten. Homer – ob der den richtigen Augenblick gerochen hatte?
Wir schauten uns an und schwiegen. Ich nahm einen Schluck aus der Mineralwasserflasche.
»Weißt du, Noemi, ich habe lange gedacht, dass wir uns nie mehr wiedersehen würden. Dass man das Rad der Zeit nicht zurückdrehen kann. Ich dachte, was vorbei ist, ist vorbei. Unwiderruflich und endgültig. Und doch habe ich mir all die Jahre nichts sehnlicher gewünscht, als dich wiederzusehen. Zu erfahren, was aus dir geworden ist. Zu wissen, ob du glücklich bist, ob es dir gut geht. Ob du allein lebst oder eine Familie hast. Als ich dann nach meinem zweiunddreißigsten Geburtstag mit Salmonellen und Gelbsucht im Spital lag, war ich auf dem absoluten Tiefpunkt. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich dachte, nie mehr aus diesem Loch herauszukommen. In meinen Fieberhalluzinationen sah ich dein Bild auf dem grau marmorierten Boden des Bades, sah dich in der Maserung der Wand. Wieder zu Hause, vegetierte ich wochenlang dahin. Nach und nach ging es mir etwas besser. Aber erst als ich vor zwei Wochen meinen Schreibtisch aufräumte und in der Schublade auf dein rotes Haarband stieß, wusste ich, dass ich dich suchen wollte. Ich roch daran, es roch nach Vanille, und auf einen Schlag war alles wieder da. Wie wir zusammen Eis aßen und auf meinen Lego-Hafen schauten. Wie du dich dem Eis hingegeben hast. Wie wir zu den Fondamente Nuove spaziert sind.«
»Vanille?«
»Vanille.«
Ich lächelte.
»Dann habe ich Tag für Tag im Internet recherchiert, bis ich endlich auf deine Adresse gestoßen bin. Ich war mir nicht ganz sicher, ob es wirklich gut war, dich wiederzusehen. Ich habe es mir hin und her überlegt. Dann gab ich mir drei Wochen Zeit, um dich zu finden.«
»Und warum hattest du Zweifel, ob es eine gute Idee war, mich
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