Die Geliebte des Gelatiere
nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Hochzeitsreise zu den Niagarafällen? Aber Robert wollte nicht zu den Fällen«, sagte sie schließlich.
»Wo seid ihr dann hin?«
»Wir sind überhaupt nirgendwo hin. Robert hatte viel zu tun. Am Schluss haben wir gar keine Hochzeitsreise gemacht.«
Weit unten im unruhigen Niagara fuhr ein kompaktes Boot, voll besetzt mit Touristen, langsam auf die Fälle zu. Die Maid of the Mist war nur ein Kutter, eine Nussschale mit Schornstein. Von ferne sah es aus, als würde ein Haufen Lebensmüder freiwillig in den nassen Tod gehen. Ein Helfer, der neben uns an der Brüstung stand und unsere erstaunten Gesichter sah, beruhigte uns: »Es ist nicht gefährlich. Wir machen das schon seit Jahren und wissen, wie man navigieren muss. Es gibt nun mal keine bessere Möglichkeit, die Fälle aus der Nähe zu sehen.«
»Seit Jahren?«
»Seit über hundert Jahren bricht die Maid of the Mist zu dieser Tour auf.«
»Und es ist nie etwas passiert?«
»Nie.«
Noemi schaute mich fragend an, ich nickte, und wir nahmen den Lift zum Fuß des Towers. Durch einen neonbeleuchteten Tunnel gelangten wir zur Anlegestelle. Die Fahrgäste, die vom Ausflug zurückkamen, legten ihre tropfnassen Regencapes ab, schüttelten ihre Haare, reinigten Brillen und Fotoapparate und schlenderten vergnügt, aber auch wie hypnotisiert zum Ausgang. Auf dem Landesteg überboten sie sich mit Superlativen:
»Großartig!«
»Fantastisch!«
»Wahnsinn!«
Um den »Wahnsinn« auch zu erleben, kauften wir Fahrkarten, bestiegen das Boot, schlüpften in blaue Plastikcapes und stellten uns vorne an den Bug. Aus der Nähe erinnerte mich die Maid of the Mist an ein aufgedonnertes Vaporetto. Langsam tuckerte der Kutter mit brummendem Motor zu den kleineren amerikanischen Fällen, dann an der steilen Kante von Goat Island vorbei Richtung Horse Shoe Falls. Während sich das Schiff dem Hexenkessel näherte, spürte ich die zerstiebende Gischt im Gesicht und an den Händen. Die Wucht der herunterstürzenden Wassermassen wirbelte Myriaden winziger Tröpfchen auf. Ein immerwährender Sprühregen erfüllte die Luft, eine kalte Dusche nach der anderen erzeugte ausgelassene Heiterkeit. Das Schaukeln des Schiffes gab einen Vorgeschmack von Seekrankheit, das unablässige Tosen schluckte jedes Geräusch.
Der Wind riss mir die Kapuze herunter, so dass ich mit der linken Hand nach ihr griff, während ich mich mit der rechten an die Reling klammerte. Noemi stand dicht neben mir. Sie war ganz auf die Fälle fixiert, auf das schaumige Gebrodel rundherum und die immer dichter werdende Gischt. Mit ihrer Kamera versuchte sie den Moment einzufangen, doch die Linse beschlug.
Die wenigen Meter zu dem schäumenden Toben ließen mich frösteln, Arme und Beine überzogen sich mit Gänsehaut. Die Gewalt des Wassers war atemberaubend. Die Fälle hatten eine Kraft, die alles auszulöschen drohte. Ich dachte an die todesmutigen »Daredevils«, die sich in Fässern oder anderen Behältern heruntergewagt hatten – viele von ihnen waren umgekommen. Und ich dachte an die zahllosen Frischvermählten und die Heiratswilligen, die hierher kamen, um sich das Jawort zu geben. Neben uns stand ein Brautpaar, das sich zuvor hatte trauen lassen. Die Braut hatte sich, wie sie laut erklärte, geweigert, ein Regencape über ihr teures Brautkleid zu ziehen, weil sie fand, es sehe lächerlich aus. Jetzt war sie, soweit man das in dem Sprühnebel sehen konnte, durch und durch nass. Aber es machte ihr nichts aus, sie lachte von ganzem Herzen und warf sich ihrem Bräutigam strahlend in die Arme. Vielleicht, dachte ich, sollte ich mich Noemi auch einfach in die Arme werfen. Aber irgendetwas hinderte mich daran. Wie gelähmt stand ich an der Reling und träumte von nichts anderem, als sie zu küssen. Wie lange hatte ich auf diese Gelegenheit gewartet, und doch zögerte ich.
Der dröhnende Lärm verursachte eine bizarre Stille. Schließlich machte die Maid of the Mist kehrt, und wir tuckerten an der Ziegeninsel vorbei wieder zum Ausgangspunkt zurück. Je weiter wir uns vom Tosen entfernten, desto lauter wurde es. Meine Schuhe waren nass. Kurz vor der Lände streiften wir die Regenhüllen ab und versuchten die Feuchtigkeit aus den Gesichtern zu schütteln. Wie damals in meinem Zimmer redeten wir nicht viel. Es war ein Einvernehmen zwischen uns, ohne dass wir miteinander sprechen mussten.
Beim Ausgang bildete sich eine Schlange, weil eine fettleibige Frau nicht durch das
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