Die Geliebte des Gelatiere
an.
»Glauben Sie mir. Ich kenne Homer sehr gut.«
Es entstand eine Pause. Sie musterte mich mit ihren hellen grünen Augen.
»Möchten Sie einen Tee? Einen kleinen Lunch?«
»Das ist nicht nötig. Danke.«
»Aber ich mache Ihnen gerne ein Sandwich. Ich mache sowieso eines für mich. Da spielt es keine Rolle, wenn ich für Sie auch eines mache.«
Ich zögerte einen Augenblick. Aber tatsächlich hatte ich ein bisschen Hunger.
»Wenn’s Ihnen nichts ausmacht, dann nehme ich Ihr Angebot gerne an.«
»Ich mach Ihnen einen Schwarztee und ein feines Truthahn-Sandwich mit Tomaten. Das bringt Sie wieder auf die Beine.«
Sie eilte aus dem Zimmer, und ich schaute mich ein wenig um. An einem Schrank hingen Kinderzeichnungen, welche die Frau mit Parka zeigten. Auf einem vollgestopften Bücherregal lagen jede Menge Bücher, ein Ratgeber »Mut zur Trennung«, daneben ein dickes schwarzes Fernglas, wie ich es von meinen Reisen nach Longarone und in die venetischen Alpen kannte, wo die Hirten mit solchen Gläsern nach ihren Schafen suchen. Vor dem Fenster befand sich ein Schreibtisch mit einem großen Bildschirm, an dem alle möglichen Zettelchen und Fotos hingen sowie das Bild einer Kuh, die einsam auf einem Schneefeld stand und am Schnee leckte.
Blickte man aus dem offenen Fenster, war eine frisch gemähte Wiese zu sehen, auf der eine Art Murmeltier vorwitzig über die Heuhaufen sprang, sich aufrecht auf die Hinterbeine stellte, einen Warnruf von sich gab und in einem Loch unweit des Teiches verschwand. Dahinter leuchteten rote Büsche, und aus dem nahen Dickicht waren Laute zu vernehmen, die an subtropische Gefilde erinnerten – ein ständiges Surren, Sirren und Sägen. Hoch über dem Dickicht querte eine Formation Wildgänse die Gegend. Das elegante V und der gleichzeitige Flügelschlag ließen mich meinen Brummschädel einen Moment lang vergessen.
Nach einer Weile kam die Frau mit einem Tablett aus der Küche, reichte mir eine Tasse Tee und ein mit Tomaten, Eiern und Truthahnscheiben belegtes Sandwich. Auch sie selbst nahm sich ein Sandwich und setzte sich zu mir. Das Sandwich schmeckte ausgezeichnet. Während ich mein Brötchen verzehrte, beobachtete ich jede ihrer Bewegungen. Ich bewunderte, wie sie aß und sich so ganz dem Sandwich hingeben konnte. Als sie es gegessen hatte, wischte sie sich mit einer Papierserviette Hände und Mund ab. Schließlich wandte sie sich wieder mir zu und strahlte mich an.
»Tolle Sandwiches«, sagte ich.
»Ich bin ganz verrückt nach Sandwiches, darum mache ich sie auch gerne.«
»Ich habe nie ein besseres gegessen.«
»Danke. Robert, mein Mann, mag Sandwiches nicht. Und auch meine Kinder stehen eher auf Hamburger oder Cheeseburger. Da muss ich die Gelegenheit schon beim Schopf
packen, wenn ich meine geheime Vorliebe mal mit jemandem teilen kann.«
Ich nickte und bedauerte im Stillen, dass es einen Robert gab. Eigentlich gab es ja immer einen Robert. Draußen jaulte Homer.
»Sie haben einen italienischen Akzent«, sagte sie nach einer kurzen Pause.
Dieser Satz ließ mich aufhorchen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, sie schon lange zu kennen. Mir wurde schwindlig.
»Ist Ihnen nicht gut? Soll ich Sie nicht doch ins Hospital fahren?«
»Nein, nein«, sagte ich, als ich mich wieder ein wenig gefasst hatte. »Ich bin nur noch etwas benommen.«
Ich schaute auf das weiße Pferd, das durch die leeren Ränge ging.
»Ja. Ich bin Italiener. Ich bin erst seit gestern hier.«
»Sie sprechen gut Englisch.«
Sie schaute mich an und lächelte.
»Ich habe Englisch studiert. Jetzt arbeite ich als Gelatiere. Die Touristen helfen, dass ich nicht ganz aus der Übung komme.«
»Sie sind Gelatiere?«
»Ja.«
»Das ist ja ein Zufall. Mein Mann arbeitet als Manager bei ,Ben & Jerry’s‘. Kennen Sie die Marke?«
»In Rom habe ich mal eine Portion ,Ben & Jerry’s‘ probiert. Man muss wissen, was die Konkurrenz macht. Ich mochte das Eis ganz gern, es war luftig und lecker.«
»Das wird Robert freuen.«
Ich schaute auf die Kuh, die am Schnee leckt. Dann starrte ich auf die zarten, länglichen Hände der Frau, die an ferne Erinnerungen rührten, auch wenn mir nicht klar war, an welche. Bald würde eines ihrer Kinder auftauchen, die keine Sandwiches mochten, oder dieser Robert, der auch keine mochte. Dass Robert ein Gelatiere im Nadelstreifenanzug war, gab mir einen Stich ins Herz. Womöglich war er ein ganz passabler Kerl, auch wenn ich mir das im Moment nicht vorstellen konnte. Aber wenn
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