Die Geliebte des Malers
Teilzeitjobs, während sie am College die Techniken und die Selbstdisziplin lernte, die für ihren Traumberuf unerlässlich waren. Zwischen ihrer Ausbildung und den Jobs blieb ihr kaum Freizeit, aber Cassidy verzichtete selbst darauf, um ihren ersten Roman zu vollenden.
Für Cassidy war das Schreiben kein Beruf, sondern eine Berufung. Ihr ganzes Leben war darauf eingerichtet. Für andere Unternehmungen war nie viel Zeit geblieben. Menschen faszinierten sie, aber es gab nur wenige, mit denen sie sich wirklich einließ. Dabei schrieb sie über komplexe menschliche Beziehungen und analysierte deren Strukturen, doch ihr Wissen stammte dabei nur aus zweiter Hand.
Was ihrem Werk Tiefe und Qualität verlieh, waren ihre scharfe Beobachtungsgabe und ihre außergewöhnliche Empfindsamkeit. Für den größten Teil ihres Lebens hatte sie im Schreiben ein Ventil für ihre rege Gefühlswelt und Fantasie gefunden.
Jetzt, ein Jahr nach dem Examen, nahm sie weiterhin die seltsamsten Jobs an. Die Miete zahlte sich schließlich nicht von allein. Ihr erstes Manuskript wanderte noch immer von Verlagshaus zu Verlagshaus, während ihr zweites Werk langsam Gestalt annahm.
Als Mrs. Sommerson die Tür zur Umkleidekabine aufzog, überarbeitete Cassidy gerade in Gedanken eine Szene in ihrem Buch. Da sie jedoch brav und mit der Demut einer Kammerzofe neben der Kabine wartete, war Mrs. Sommerson zufrieden. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn.
»Das ist doch recht nett. Meinen Sie nicht auch?«
Mrs. Sommersons Wahl war auf ein flammend rotes Seidenkleid gefallen. Die Farbe, so fiel Cassidy auf, verstärkte noch Mrs. Sommersons immer leicht geröteten Teint, bildete aber einen eindrucksvollen Kontrast zu ihrem schwarzen toupierten Haar, das zu einer Hochfrisur aufgetürmt war. Cassidy erkannte durchaus das Potenzial.
»Damit werden Sie alle Blicke auf sich ziehen, Mrs. Sommerson«, antwortete sie nach einem Moment des Überlegens. Mit den richtigen Accessoires könnte Mrs. Sommerson geradezu majestätisch wirken. Allerdings saß die Seide auffallend stramm über der ausladenden Hüftregion. Eine Nummer größer würde das Kleid perfekt passen, entschied Cassidy.
»Ich glaube, das haben wir auch noch in einer Nummer größer da«, dachte sie laut.
»Wie bitte?«
Da Cassidy zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt war, fielen ihr Mrs. Sommersons empört hochgezogene Augenbrauen nicht auf.
»Eine Nummer größer«, wiederholte sie dienstfertig. »Das hier spannt ein wenig um die Hüften. Die nächste Größe sollte dann perfekt sitzen.«
»Das hier ist meine Größe, junge Frau.« Mrs. Sommersons Busen hob und senkte sich heftig. Eine wahrhaft Ehrfurcht erregende Bewegungsabfolge.
Cassidy war ganz mit der Lösung des Accessoire-Problems beschäftigt. »Eine dicke goldene Gliederkette«, sagte sie lächelnd und nickte. »Ja, das passt.« Sie tippte mit dem Finger an ihre Unterlippe. »Warten Sie einen Moment, ich hole Ihnen eben Ihre Größe.«
»Das hier«, es war Mrs. Sommersons Ton, der jetzt Cassidys volle Aufmerksamkeit fesselte, » ist meine Größe.« Aus jeder Silbe schäumte die Empörung.
Und endlich erkannte Cassidy ihren Fehler. Der Magen sackte ihr in die Kniekehlen. Oh, oh! Sie nahm sich zusammen, versuchte ihre Gedanken zu ordnen, doch bevor sie etwas Beschwichtigendes zu Mrs. Sommerson sagen konnte, trat Julia schon dazu.
»Eine wirklich ausgezeichnete Wahl, Mrs. Sommerson«, flötete sie mit ihrer tiefen sanften Stimme. Ein unverbindliches Lächeln auf den Lippen, sah sie von der Kundin zu ihrer Angestellten und wieder zurück. »Gibt es etwa ein Problem?«
»Diese junge Frau«, wieder wogten die Massen, als Mrs. Sommerson erneut einen empörten Atemzug nahm, »behauptet, ich hätte mich in der Kleidergröße geirrt.«
»Aber nein, Ma’am, ich …« Cassidy verstummte sofort, als Julia ihr mit einer bleistiftdünnen hochgezogenen Augenbraue das Gesicht zuwandte.
»Ich bin sicher, Miss St. John wollte Sie nur darauf hinweisen, dass dieses Kleid ganz besonders klein ausfällt. Der Designer ist berüchtigt dafür, dass seine Größen nicht der Norm entsprechen.«
Da hätte sie auch selbst drauf kommen können! gestand Cassidy sich ein.
»Nun«, Mrs. Sommerson schnaubte und bedachte Cassidy mit einem feindseligen Blick, »dann hätte sie das auch sagen sollen, anstatt mir vorzuhalten, ich bräuchte die nächste Größe. Wirklich, Julia«, sie machte Anstalten, in die Kabine zurückzugehen, »Sie sollten darauf
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