Die Geliebte des Malers
Schultern zucken.
Eine Stunde später schlenderte Cassidy, jetzt arbeitslos, durch das Hafenviertel Fisherman’s Wharf.
Sie liebte die leicht verwitterte, malerische Romantik, den Hauch von Rummelplatzatmosphäre. Das Leben schillerte hier in allen Farben. San Francisco entsprach Cassidys Vorstellung von einer perfekten Stadt, aber in Fisherman’s Wharf hatte man das Ende des Regenbogens endlich erreicht. Hier trafen Realität und Fiktion aufeinander und schlenderten einträchtig Hand in Hand.
Cassidy bummelte an den Marktständen vorbei, nahm sich Zeit und suchte in den Schalen und Kartons nach unentdeckten Schätzen, befühlte Seidenschals und saugte die Geräusche in sich auf. Aber es war die Bucht, die sie anzog. Mit langsamen, unbekümmerten Schritten spazierte sie auf das Wasser zu, als der Nachmittag in den Abend überging. Der Geruch von Fisch hing in der Luft, vermischt mit einem Bouquet von Zwiebeln und Kräutern und Menschen.
Sie lauschte den Straßenhändlern, die lautstark ihre Waren anpriesen, beobachtete, wie ein Krebs aus dem Korb genommen und in einen Topf mit kochendem Wasser geworfen wurde. Fisherman’s Wharf war gesäumt von zahllosen Restaurants, Cafés und noch mehr kleinen Läden. Auch wenn alles leicht heruntergekommen wirkte und manches sogar schäbig: Cassidy liebte es hier. Dieses Viertel musste man nicht beschönigen oder entschuldigen, denn es war alt und liebenswert und völlig zufrieden mit sich, so wie es war.
Sie kaufte sich eine frische Brezel und wanderte knabbernd weiter, unter an Leinen aufgehängtem Chinesischem Rettich hindurch, vorbei an Kisten mit frisch gefangenen Muscheln und lebenden Krebsen.
Erste Nebelschwaden wirbelten um ihre Fußknöchel, die Sonne ging langsam unter. Sie war froh, dass sie ihre violette Steppjacke trug, als die kühle Abendbrise von der Bucht hereinwehte.
Wenn schon nichts anderes, so habe ich doch ein paar ganz nette Sachen zum Anziehen mit einem ordentlichen Rabatt bekommen, dachte sie und runzelte die Stirn, bevor sie ein großes Stück von der noch warmen Brezel abbiss. Wenn Mrs. Sommerson nicht gewesen wäre, dann hätte sie die Stelle in der Boutique noch. Und dabei hatte sie es nur gut mit der Frau gemeint …
Unwirsch zog sie die Haarnadeln heraus und warf sie in den nächsten Papierkorb. Das befreite Haar fiel ihr in langen Locken über die Schultern, und Cassidy seufzte vor Erleichterung auf.
Endlich! Cassidy biss herzhaft in die Brezel und lief auf das Wasser zu. Sie hatte diesen Job gebraucht, auch wenn es ein blöder Job gewesen war. Sie seufzte bedrückt, während sie über das Dock ging, vorbei an den festgemachten Booten. In Gedanken überschlug sie ihre Finanzen. Die Miete war nächste Woche fällig, und sie brauchte einen neuen Packen Schreibmaschinenpapier. Das müsste sie schaffen – wenn sie in den nächsten Tagen nicht allzu viel Wert auf Essen legte.
Ich wäre ja nicht der erste Schriftsteller in San Francisco, der den Gürtel enger schnallen muss, dachte sie. Diese Sache mit den vier Hauptnahrungsgruppen war vermutlich so oder so übertrieben.
Mit einem ergebenen Achselzucken verschlang sie den letzten Bissen ihrer Brezel. Das würde wohl vorerst für einige Zeit die letzte sättigende Mahlzeit für sie bleiben. Schief grinsend stopfte sie die Hände in die Taschen und schlenderte weiter zum Geländer am Ende des Docks.
Nebel schwebte über die Bucht herein wie ein Geist. Auf seinem Weg landeinwärts verschluckte er das Wasser. Doch heute war er luftiger als sonst, nicht wie diese dicke graue Melasse, die die Stadt so oft verschlang. Im Westen versank die Sonne am Horizont und schickte ihre letzten Strahlen wie Speere über das Meer.
Cassidy wartete auf das letzte goldene Aufglühen. Ihre Laune verbesserte sich schon wieder. Schließlich war sie von Natur aus optimistisch. Sie verlor grundsätzlich nicht die Hoffnung und glaubte an ihr Glück. So wie sie an das Schicksal glaubte. Und ihr Schicksal, da war sie absolut sicher, war das Schreiben. Ein Traum, der stetig genährt worden war, wenn sie mal wieder einen Artikel oder eine Kurzgeschichte an eine Zeitschrift verkauft hatte.
Die vier Jahre im College hatten sich einzig und allein darum gedreht, die Kunst des Schreibens zu perfektionieren. Die verschiedenen Jobs hatten sichergestellt, dass sie ein Dach über dem Kopf und zu essen hatte, mehr hatten sie ihr nie bedeutet. Was Verabredungen anging, so mussten diese sich danach richten, ob sie gerade Zeit hatte
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