Die Geliebte des Malers
muss man wirklich durchtrieben sein.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. Die Tränen, die sie vorhin heruntergeschluckt hatte, schossen ihr wieder in die Augen, als sie seine Vorwürfe anhörte. »Nicht, Colin, bitte.« Sie wollte ihm sagen, dass sie ihn nie angelogen hatte, doch sie brachte es nicht über die Lippen.
Denn sie hatte ihn angelogen – das letzte Mal, als sie zusammen gewesen waren. Und so konnte sie nur den Kopf schütteln und ihren Tränen hilflos freien Lauf lassen.
»Was genau willst du von mir?«, verlangte er zu wissen. Seine Stimme wurde noch aufgebrachter, als ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie funkelten in der Sonne, die durchs Oberlicht strahlte. »Soll ich etwa einfach vergessen, dass ich dich Tag für Tag betrachtet und etwas gesehen habe, das nie da war?«
»Ich habe dir gegeben, was du wolltest.« Die Tränen wurden zu Schluchzern, und Cassidy versuchte gegen ihn anzukämpfen. »Bitte, lass mich gehen. Ich habe dir doch gegeben, was du wolltest. Es ist vorbei.«
»Was du mir gegeben hast, war eine leere Hülle, eine Fassade. Ist es nicht das, was du selbst mir gesagt hast?« Er zog sie näher an sich heran, zwang sie, ihn anzusehen. »Der Rest war meine Vorstellungskraft. Vorbei, Cass? Wie kann etwas vorbei sein, das nie angefangen hat?« Er vergrub die Finger in ihrem Haar, als sie seinem Blick auszuweichen versuchte. »Du hast gesagt, ich hätte dich ausgelaugt. Hast du überhaupt eine Ahnung, was die letzten Wochen mit mir gemacht haben?« Er schüttelte sie unsanft, und ihr Schluchzen wurde lauter.
»Du hast völlig recht, Cassidy. Ich habe nicht mehr gemalt als dein Gesicht und deinen Körper. In dir ist keine Wärme, kein Gefühl. Die Frau in dem Gemälde habe allein ich geschaffen.«
»Colin, hör auf. Es ist genug.« Sie presste die Hände an die Ohren, um seine Worte nicht hören zu müssen.
»Du schreckst vor der Wahrheit zurück, Cassidy?« Er zog ihre Hände fort, zwang sie erneut, ihm das Gesicht zuzuwenden und ihn anzuschauen. »Nur du und ich werden wissen, dass das Bild eine Lüge ist, dass diese Frau nicht existiert. Doch wir haben einander gegeben, was wir brauchten, nicht wahr?« Mit einem unterdrückten Fluch stieß er sie von sich. »Und jetzt sieh zu, dass du verschwindest.«
Und Cassidy ergriff blind vor Tränen die Flucht.
10. K APITEL
Es war bereits später Nachmittag, als Cassidy zu ihrer Wohnung zurückkam. Sie war lange ziellos umhergewandert, nachdem ihre Tränen versiegt waren. Die Stadt war voller Menschen. Sie hatte bewusst die Menge gesucht, weil sie hier nicht allein war und dennoch in der Anonymität untertauchen konnte. Die Erschöpfung hatte den dumpfen Schmerz erträglicher gemacht. Sie war nur zwei Häuserblocks von ihrer Wohnung entfernt gewesen, als der Regen einsetzte. Dennoch beschleunigte sie ihre Schritte nicht. Der Regen war kühl und sanft.
Im Hausflur suchte sie mechanisch in ihrer Tasche nach dem Briefkastenschlüssel. Ihre Bewegungen waren eckig und ungelenk, dennoch zwang sie sich, diese alltägliche Aufgabe zu erledigen. Nein, sie würde sich nicht verkriechen und in einem Sumpf aus Elend versinken. Sie würde funktionieren. Sie würde es überleben.
Das hatte sie sich auf dem langen Spaziergang geschworen.
Endlich fand sie den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss. Sie zog den Briefkasten auf und nahm ihre Post heraus. Auf dem Weg zur Treppe nach oben zu ihrem Apartment ging sie automatisch den Stapel von Wurfsendungen und Rechnungen durch. Abrupt blieb sie stehen, als ihr der Absender auf einem der Briefumschläge auffiel. New York.
Mehrere Sekunden lang starrte sie einfach nur darauf, dann ging sie zum Briefkasten an der Flurwand zurück, stopfte Rechnungen und Reklame wieder in den Schlitz und lehnte sich erst einmal an die Wand. Noch eine Absage? fragte sie sich und kaute an ihrer Unterlippe. Aber wo war dann das Manuskript? Sie drehte den Umschlag in den Fingern und schluckte.
»Ach, zum Teufel damit«, murmelte sie und riss den Umschlag auf. Sie las den Brief zwei Mal, ohne einen Laut von sich zu geben. »Warum ausgerechnet jetzt?!«, stieß sie schließlich aus und hasste sich dafür, dass sie wieder zu heulen anfing. »Ich bin noch nicht bereit.« Sie schüttelte den Kopf und schluckte die dummen Tränen hinunter. »Nein«, verbesserte sie sich, »es ist der perfekte Zeitpunkt.« Sie zwang sich, den Brief ein drittes Mal zu lesen. Es konnte gar keinen besseren Zeitpunkt geben.
Sie stopfte den Brief in
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