Die Geliebte des Malers
gehalten?«
»Du bist der Künstler, Colin.« Sie zuckte scheinbar gleichgültig mit den Schultern und hielt ihren Ton unverbindlich. »Ich bin nur eine arbeitslose Schriftstellerin.«
Lange musterte er sie schweigend, dann kam er auf sie zu. Es lag etwas Berechnendes in der Art, wie er sie bei den Schultern packte. Sie kannte diesen suchenden, bohrenden Ausdruck in seinen Augen.
Sein Griff wurde fester, als sie sich versteifte. »Hat die Frau in dem Porträt irgendetwas mit dir zu tun?«, fragte er langsam.
Cassidy schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. »Aber natürlich, Colin. Ich habe doch gerade gesagt …«
Er schüttelte sie so unerwartet, dass der Rest des Satzes in ihrer Kehle stecken blieb. In seinem Gesicht stand blanke Wut. »Glaubst du wirklich, dass ich nur dein Gesicht wollte? Eine leere Hülle? Ist denn gar nichts von dir in diesem Gemälde?«
»Musst du denn alles haben?«, fragte sie voller Verzweiflung. »Gibst du dich nicht mit weniger zufrieden?« Ihre Stimme klang belegt. »Du hast mich völlig ausgelaugt, Colin. Das da«, mit einem Ruck deutete sie auf das Gemälde, »hat mich völlig ausgelaugt. Ich habe dir alles gegeben, was ich zu geben habe. Was willst du denn noch?«
Sie stieß ihn von sich, als eine Welle der Verzweiflung über ihr zusammenschlug. »Du hast nie wirklich mich angesehen oder an mich gedacht, solange es nicht irgendwie mit diesem Bild zusammenhing.« Sie strich sich mit beiden Händen durchs Haar, presste dann die Fingerspitzen an die Schläfen. »Ich werde dir nicht mehr geben. Ich kann nicht, denn es gibt nichts mehr! Es ist alles schon da drinnen.« Wieder zeigte sie auf das Bild, und ihre Stimme bebte. »Dem Himmel sei Dank, dass es vorbei ist.«
Sie riss sich los, wirbelte auf dem Absatz herum und rannte zum Atelier hinaus.
Die nächsten zwei Wochen verbrachte Cassidy in der Wohnung von Freunden, die in Urlaub gefahren waren. Sie ließ eine kurze Nachricht für Jeff zurück, packte ihre Schreibmaschine ein und vergrub sich in ihrer Arbeit. Das Telefon stellte sie ab. Sie verriegelte die Tür und vergrub sich. Zwei Wochen lang versuchte sie zu vergessen, dass da draußen eine reale Welt mit realen Menschen existierte und nicht nur die, die sie mit ihrer Vorstellungskraft erfand. In dem verzweifelten Versuch, Cassidy St. John zu vergessen, verlor sie sich völlig in ihren Charakteren. Denn wenn Cassidy St. John nicht existierte, dann konnte sie auch keinen Schmerz empfinden.
Am Ende dieser zwei Wochen hatte sie fünf Pfund Gewicht verloren und hundert Seiten geschrieben. Ihr Nervenkostüm war fast wieder stabil.
Als sie zu ihrem Apartment zurückkehrte und die Schreibmaschine die Treppe hinaufwuchtete, hörte sie Jeffs Gitarrenspiel auf der anderen Seite seiner Wohnungstür. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie nicht bei ihm anklopfen und ihm Bescheid geben sollte, dass sie wieder zurück war, doch dann entschied sie sich anders und ging direkt zu ihrer Wohnung. Sie war noch nicht in der Lage, Fragen zu beantworten. Sie überlegte, ob sie Colin anrufen und sich entschuldigen sollte, doch auch das verwarf sie schließlich. Es war besser, wenn der Bruch endgültig war. Hätten sie sich freundschaftlich getrennt, wäre er vielleicht versucht gewesen, sich von Zeit zu Zeit bei ihr zu melden und den Kontakt zu halten. Doch Cassidy wusste, dass sie mit ihm nie eine lockere Freundschaft würde führen können.
Sorgfältig verpackte sie das Seidenkleid, das sie bei ihrer Flucht aus dem Atelier noch getragen hatten. Leicht strich sie über den feinen Stoff in der Kleiderschachtel. So viel war geschehen, seit sie es zum ersten Mal angezogen hatte …
Hastig bedeckte sie das Kleid mit dem Seidenpapier. Dieses Kapitel ihres Lebens war abgeschlossen. Sie ging zum Telefon. Sie würde in der Galerie anrufen und darum bitten, dass man es abholte. Die Angestellte, die den Anruf entgegennahm, stellte sie sofort zu Gail durch.
»Oh, hallo, Cassidy. Wohin sind Sie denn verschwunden?«
»Ich habe noch das Kleid von dem Porträt und den Schlüssel zum Atelier«, sagte Cassidy, ohne auf die Frage einzugehen. »Könnte jemand die Sachen bei mir abholen?«
»Ja, sicher.« Am anderen Ende zögerte Gail kurz, bevor sie fortfuhr. »Ich fürchte nur, wir sind hier alle im Moment zu beschäftigt, meine Liebe. Ich weiß, Colin wollte das Kleid unbedingt zurückhaben. Seien Sie doch so nett und bringen Sie es selbst vorbei, ja? Sie können sich ja selbst mit dem Schlüssel ins
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