Die Geliebte des Piraten
Handel vorgeschlagen hatte, weil er überzeugt gewesen war, sie würde ihn rundweg abschlagen, und er auf diese Weise keine Schuldgefühle haben müsste, die Suche nach einem toten Kind abgelehnt zu haben, verband ihre Übereinkunft sie auf höchst seltsame Weise. Willa suchte nach einem verloren gegangenen Kind, das sie liebte. Und er war solch ein verlorenes Kind gewesen. Es hatte niemanden gegeben, der nach ihm gesucht hatte, der ihn geliebt hatte. Raiden seufzte insgeheim. Es macht keinen Sinn, die Vergangenheit heraufzubeschwören, weil ich sie ohnehin nicht ändern kann, dachte er, als unerwartet das Gesicht eines Kindes vor seinem geistigen Auge auftauchte – ein Kind mit roten Haaren und mit Grübchen, so wie Willa. Ob der Junge vielleicht durch irgendeine Schicksalsfügung doch überlebt hatte? Wusste er, dass seine Mutter nach ihm suchte? Wusste er, wie viel ihre Liebe zu ihm sie kostete? Und wer hatte den Jungen in seine Gewalt gebracht? Denn für Raiden war es klar, dass Willa ihr Kind niemals vernachlässigt oder es gar verloren hätte, wie man ein Halstuch oder einen Ring verliert.
Nicht zum ersten Mal, seit Willa ihm von ihrem Sohn erzählt hatte, fragte sich Raiden, wie seine Mutter wohl gewesen war, und er stellte sich immer wieder diegleichen Fragen, die er sich in den vergangenen dreiunddreißig Jahren gestellt hatte und die ihn quälten. Hatte sie ihn gewollt und war es ihr wegen ihrer Familie unmöglich gewesen, ihn bei sich zu behalten? Oder war es wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung gewesen und wegen des Skandals, den seine Geburt unweigerlich verursacht hätte? Hatte sein Vater, nachdem er Raiden seinen Namen gegeben hatte, jemals wieder versucht, seinen Sohn zu finden? Und warum hatte er Raiden nicht zu sich genommen? Und was war mit den anderen Montegomerys? Was stimmte an den Gerüchten über Ransom, der als Granvilles leiblicher Sohn in einer Welt voller Privilegien groß geworden war, nur um herauszufinden, dass auch er eines von den vielen illegitimen Kindern seines Vaters war? Und das, nachdem Ransom einen Mann getötet hatte, der ihm genau das vorgehalten hatte. Raiden wusste nicht, was schlimmer war: zu entdecken, dass man nicht der war, der man zu sein geglaubt hatte, oder niemals zu erfahren, wer man war und woher man kam.
Gestohlene Leben und verlorene Seelen, dachte er bitter und schaute zu Willa, die gerade noch einen Schluck Rum trank. Er fragte sich, wie viel sie wohl davon getrunken haben mochte, während er sich der Hässlichkeit seiner Vergangenheit erinnert hatte.
»Der Bruder meines Vaters ist Arzt«, sagte sie schließlich.
»In den Carolinas?«
»Ja, und meine Mutter und meine Schwester sind tot, und mein Mann ist auch tot.« Diese letzte Lüge blieb Willa fast im Halse stecken, und sie spülte das schlechte Gewissen mit einem weiteren Schluck Rum fort. »Alles, was mir geblieben ist, ist mein Baby.«
Schuldgefühle packten Raiden, und er ging zu ihr, um ihr die Flasche wegzunehmen.
Sie schob seine Hände beiseite.
»Ihr werdet es morgen früh bereuen.«
»Das ist mir egal. Warum verschwindet Ihr jetzt nicht einfach?« Sie winkte ihn fort und tat sich wieder an dem Rum gütlich. Raiden runzelte die Stirn, als er den irischen Akzent in ihrer Stimme hörte. Er entwand ihr die Flasche, setzte sie an seine Lippen und nahm selbst auch einen Schluck. Als Willa danach greifen wollte, hielt er die Flasche außerhalb ihrer Reichweite und verkorkte sie.
»Warum gönnt Ihr mir nicht noch ein winziges Schlückchen?«
»Wenn Ihr Euch dahinter versteckt« – er schüttelte die Flasche – »dann haben sie gewonnen«, sagte er und wusste nicht, woher er diese Erkenntnis hatte.
»Sie werden immer gewinnen.« Willa sah ihn von Kopf bis Fuß an. »Denn so wie Ihr, Raiden, kennen sie keine Skrupel, wenn es um ihre Verbrechen geht.«
»Und warum begehen sie diese Verbrechen?«
»Es geht um Macht.« Sie wankte unmerklich, als sie sich erhob. Raiden griff nach ihrem Arm, um sie zu stützen. Sie erwiderte seinen Blick. »Um Macht und um mehr als nur ein bisschen Geld.«
»Aber Ihr seid eine wohlhabende Frau …«
»Ach Quatsch.«
Raiden grinste. »Wie ich sehe, habe ich es mit einer kultivierten und schönen Frau zu tun.«
»Das ist nichts als die Verpackung für das Tauschobjekt, Pirat«, entgegnete sie und knickste unsicher. »Es ist immer das hübscheste Spielzeug, das an den Meistbietenden verkauft wird, müsst Ihr wissen.«
Seine Miene verfinsterten sich. Aus
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