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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Stärke war, aufmerksam hatte er gelesen, fiebrig beinahe, er wollte wissen, wo er war. Die Broschüre wiederholte vor allem immer wiederkehrende Warnungen: Die Soldaten sollten nicht vergessen, dass sie es mit früheren, hochgradig aggressiven Nazis zu tun hatten. Und sie sollten nicht
fraternisieren.
Wieder einer der Schlüsselbegriffe.
    Dick hatte es ihm erklärt.
Fraternisieren, Kommandant, Kontakt
, darum drehte sich alles. Und:
VD, veneral diseases,
Geschlechtskrankheiten. Nur: Wie sollte man mit Unsichtbaren fraternisieren? Ein paar Stunden später hatte der Soldat immer noch keinen früheren Nazi gesehen und schon gar nicht jemanden, mit dem man Kontakt haben konnte. Stattdessen waren sie wieder und wieder zum Stubendienst und zum Wachdienst eingeteilt worden. Dann endlich erhielten sie ihre Einsatzbefehle. Ganz schmucklos hingen sie am Schwarzen Brett. Ihre Zukunft war eine Notiz in der Kommandantur.
    Dick jubelte, der Junge schämte sich: Der Sergeant hatte nicht geblufft, er wurde tatsächlich zu einer Art Sekretärin degradiert, jedenfalls sah er den Dienst in der Schreibstube so, zu dem sie ihn bestimmt hatten. Dick hingegen sollte sich um ein Kino kümmern, das unweit des amerikanischen Hauptquartiers lag und nur für Angehörige der alliierten |30| Streitkräfte bestimmt war. Manager eines Kinos! Dick strahlte. Und begann sogleich Pläne zu schmieden. Der Junge staunte. Dass sie achtzehn Stunden unterwegs gewesen waren, sah man Dick nicht an. Seine Augen glänzten, seine glatte Haut schimmerte rosig, und die Uniform saß perfekt. Dick würde überall eine gute Figur machen.
     
    Achtzehn Stunden Reisezeit waren für die besiegten Deutschen ein Klacks. Ein Kinderspiel. Wenn man an Kinderspiele gedacht hätte. Eine Fahrt von Berlin nach Hannover konnte so lange dauern. Achtzehn Stunden. Wenn alles gutging. Wenn man die Papiere zusammenbrachte. Aber es waren nicht die zermürbenden Umstände solcher Abenteuer, die bei Irmgard und ihren Töchtern zu einer klaren Aufgabenverteilung geführt hatten: Renate reiste und organisierte, Riccarda hielt sich in der Umgebung und schaffte, was dort zu schaffen war – nein, Riccarda weigerte sich
seit dem Vorfall
, Zug zu fahren, und während Irmgard sonst keinerlei Widerstand duldete, war sie hier nachgiebig gewesen, überraschend nachgiebig.
    Renate hatte nie nachgefragt, was während jener bestimmten Reise geschehen war, die Riccarda gemacht hatte. Sie hatte auch nie danach gefragt, was der Russe mit ihrer Schwester gemacht hatte, nachdem er sie ins Elternschlafzimmer gezerrt hatte, während sie selbst im Mädchenzimmer drankam.
Sie waren dran gewesen
,
beide
. So hatten sie es genannt. Und hatten mehrmals versucht, darüber zu reden, und hatten beide geschwiegen nach dem ersten Satz. Und waren zu Tode erschrocken, aber auf eine verrückte Weise auch irgendwie erleichtert, als die Russen wiederkamen: Sie waren benutzt worden, aber nicht weggeworfen. Jedenfalls redeten sie sich das ein und horteten achselzuckend die Geschenke, sinnloses Zeug, aus verlassenen Wohnungen geholt.
     
    |31| Mit den Russen hatte sich das Schweigen wie ein Keil zwischen die Schwestern geschoben, sie kamen nicht mehr über das Schweigen hinweg, und Irmgard, die Mutter, hatte nicht helfen können, denn sie war ja die Ursache dieses Schweigens gewesen. Die Mutter, nicht die Russen. Die Mutter hatte einen Pakt gebrochen, den letzten, der noch galt: Die Mutter hatte sich nicht wie eine Mutter verhalten. Sie hatte das Muttersein aufgekündigt, und das war das Ende gewesen. Das Ende aller Regeln. Die Widerlegung alles bisher erfahrenen. Das hatten die Mädchen begriffen und sich seitdem auch so verhalten: Überleben. Raffen. Beschaffen. Rücksichtslos sein. Nicht zurückschauen und nicht nachdenken. Darin befeuerten sie sich sogar. Verhielten sich wie Komplizinnen. Bekamen Übung. Tauschten die ersten beiden Russen gegen andere, vielversprechendere aus. Bekamen einen Blick für die Offiziere. Nahmen Geschenke nicht nur, verlangten sie vielmehr. Wurden kälter. Wurden erwachsen.
    Das hatte so funktioniert bis zu Riccardas seltsamer Reise. Es hatte nach Bielefeld gehen sollen, zur Tante, die auf unerklärliche Weise an größere Vorräte von Zucker, Grieß und sogar Kaffee gekommen war und den notleidenden Verwandten in Berlin etwas abgeben wollte. Ein ungeheurer Schatz, wenn man ansonsten von Brennesselsuppe und Gerstenkaffee lebte. Riccarda wurde dazu bestimmt, die Sachen abzuholen. Vier Wochen

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