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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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dauerte es, dann waren Interzonenpass, Zulassungsschein und Fahrkarte organisiert. Die Reise sollte über Hannover gehen, und Riccarda bestieg an einem regnerischen Oktobertag den Interzonenzug. Auf der Hinfahrt ging alles gut. Der Zug, eingesetzt von den britischen Besatzern, war beleuchtet, in den Abteilen schützte Fensterglas vor der Kälte. Was machte es, sechs Stunden zwischen anderen Reisenden eingepfercht zu stehen, ihren warmen, feuchten Dunst im Nacken, in der Nase den Geruch nach kalter Brühe, nach ungewaschenen |32| Menschen, nach Zwiebeln? Einmal kämpfte sich Riccarda zur Toilette durch – da kauerten sie zu viert. Nach dem Umsteigen in Hannover am späten Nachmittag wieder sechs Stunden, diesmal unbeleuchtet. Die Menschen drängten, schoben, ächzten, aber keiner sagte etwas, alle blieben stumm, als hätten sie keine Kraft zu verschwenden. Riccarda dachte sorgenvoll an die Waren, die sie abzuholen hatte. Wie sollte man die in dieser Enge transportieren? Wie die kostbaren Güter sichern? Der alte Koffer, der ihr schmerzhaft gegen die Schienbeine drückte, bestand aus mehr Pappe als Leder, er konnte jeden Augenblick auseinanderfallen. Für einen Augenblick erinnerte sich Riccarda an ihre Mutter und wurde zornig: Wie immer hatte sich Irmgard auf das Glück ihrer Töchter verlassen. Das wird schon! Stell dich mal nicht so an – fährst ja auf keine Modenschau! Und diese Klapse, diese aufmunternden Klapse. Seit
der Sache mit den Russen
ließ sich Riccarda von der Mutter nicht anfassen, aber die Klapse kamen überraschend, überfallartig.
    Die Tante, im Reisen erfahrener als die Berliner Verwandtschaft, hatte vorgesorgt. In einen alten Armeemantel hatte sie eine Unzahl von Taschen eingenäht, die sogar mit Knöpfen zu schließen waren, dazu gab es einen stabilen Rucksack – und für die Rückreise noch ein wenig Proviant in einer ledernen Brottasche. Riccarda kam sich vor wie eine Königin, wie eine dieser dicken, schwarzen Stammesfürstinnen, die sie in den Bildbänden des Vaters gesehen hatte über Deutsch-Südwest und Schwarzafrika. Da hatte er immer hingewollt, ihr Vater, als Musiker, als Mitglied einer stolzen preußischen Militärkapelle hatte er sich gesehen – und nun dämmerte er in einer Kellerwohnung zwei Straßen entfernt, trank mit seinem Bruder, was immer sie an Fusel erwischen konnten, und verstand die Welt nicht mehr. Manchmal hielt er die Hände vor den Mund, als spielte er Trompete, und es gab nicht |33| wenige, die hielten ihn für verrückt. An Musik zu denken war sowieso verrückt. In dieser Zeit! Riccarda schüttelte die trüben Gedanken ab.
     
    Auf dem Rückweg nach Hannover hatte der Zug Verspätung, und, damit nicht genug, hielt er unterwegs noch auf freier Strecke, kein Mensch wusste, warum. Auf dem Umsteigebahnhof war der Armeezug längst weg. Inzwischen ging es auf Mitternacht zu. Immerhin konnte sie jetzt das Brot essen, das ihr die Tante eingepackt hatte. Im Zug war nicht daran zu denken gewesen. Sie suchte sich einen versteckten Winkel hinter einer Säule und stopfte sich das Brot so hastig in den Mund, als täte sie etwas Verbotenes. Das hatten sie sich alle angewöhnt. Sicher war das Brot nur im eigenen Magen. Danach schob sich Riccarda unschlüssig durch die Halle, wie in Zeitlupe mit ihrem Gepäck, das vorn und hinten gleichzeitig an ihr zog, die Schritte schwer machte. Ihre Hände waren eiskalt. In den Einschubtaschen des Mantels hatte die Tante noch je eine Dose Corned Beef untergebracht und die Taschen dann sorgfältig zugenäht: Kommste nicht in Versuchung – und andere auch nicht! Riccarda rieb die Hände heftig gegeneinander, aber es tat nur weh. Mit dem Gewicht auf dem Rücken konnte sie nicht schneller gehen, um sich zu wärmen.
    Bald konnte sie an nichts anderes mehr denken als an die Kälte. Eine Frau bot ihr einen Handschuh an –
einen
für fünfzehn Mark. Riccarda pölkte das Geld aus dem linken Schuh, handelte, zahlte, hatte nun einen Handschuh aus roter Wolle mit einem eingestrickten weißen Stern. Sogar sauber war er. Riccarda zog den Fäustling an. Er war so weit, dass sie beide Hände darin bergen konnte, zusammengelegt, vor dem Bauch. Nun sah es aus, als ob sie betete. Vielleicht sollte sie beten? Aber sie brachte nicht einmal mehr das Vaterunser |34| zusammen. Was war schon ein Vater? Sie sah den elenden Mann in der Wohnküche vor sich, der die Hände vor dem Mund zu einer Tüte geformt hatte. Vater unser!
    In der Bierstube bestellte sie einen

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