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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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vorbei am Eingang mit der Kontrolle, hinauf, die enge Bunkertreppe hinauf – ins Freie, in die Kälte. Sie lief zurück in die Bahnhofshalle, lehnte sich an einen Pfeiler, ihr Herz hämmerte, das Gesicht zuckte. Es kamen die Bilder, es kamen die Erinnerungen an jene erste Nacht mit den Russen, eine Nacht, die nicht enden wollte, eine Nacht, angefüllt mit Ekel und vergeblicher Gegenwehr und so etwas wie Wodka, den sie erbrechen musste, und dann etwas anderem, das sie auch erbrach, und es hatte so gerochen wie eben im Lager der Frauen, es würde immer so riechen, nie würde dieser Gestank sie verlassen und auch die Verzweiflung nicht.
    Sie kauerte die ganze Nacht auf dem schmutzigen Boden, die Hände gegen den Kopf gepresst, und wartete auf die Tränen.
    Irgendwie überstand sie dieses Hannover bei fünfzehn Grad unter Null, in einer Bahnhofshalle voller Verlorener. Irgendwie |37| kehrte sie heim, die Schätze der Tante unversehrt am Leibe und auf dem Rücken. Aber Zugfahren, reisen wollte Riccarda nicht mehr.
    Das Kind ist komisch, sagte Irmgard. Dabei hat sie die arme Person doch gar nicht im Zuge getroffen! Sondern im Notquartier. Verstehe einer dieses Mädchen! Irmgards Stimme klang schrill. Irmgards Stimme klirrte. Irmgards Schimpfen sollte die Erinnerung übertönen. Irmgard bestand darauf, dass es weiterginge. Es musste weitergehen, irgendwie. Aber hier konnte sie sich nicht durchsetzen: Renate, die Ältere, reiste und raffte. Riccarda reiste nicht mit. Sie organisierte, schaffte an, das schon. Und Irmgard hielt alles zusammen: zwang die Einquartierten, ihr Scherflein beizutragen, hielt alle zur Arbeitssuche an, räumte selber Trümmer, war bei hunderten anderer Frauen, die eine Maschinenfabrik demontierten, verlud Eisenteile. Verachtete die Alliierten, vor allem die sechstausend Amerikaner, diese Wohlstandssoldaten, die lachten und Scherze trieben und überhaupt keine Haltung hatten – verachtete aber noch mehr die eigenen Männer, die herumhockten wie die verhungerten Dohlen auf dem kaputten Dach der Pauluskirche.
    Nur, dass die Dohlen noch keckerten und sich regten. Die heimgekehrten Männer regten sich nicht. Ließen sich hin und her schieben und ausquartieren, aussortieren vom Leben. Dass es einen Mann gab, ihren Mann, Siegfried, nur ein paar Straßen weiter, daran dachte Irmgard nur sehr gelegentlich. Und dann mit diesem ganz bestimmten Achselzucken, dem Erkennungszeichen der Nachkriegszeit.
     
    Ihre ersten Erkundungsgänge kamen den Soldaten wie Ausflüge vor. Die Kälte fraß sich selbst durch ihre dicken Mäntel, die Stiefel wollten jeden Tag gewachst und poliert sein. Auch das half. Ebenso, wie das Unterzeug doppelt überzuziehen. |38| Einmal kamen sie bei einer Nähmaschinenfabrik vorbei. Stillgelegt, natürlich, oder aufgegeben. Aber die Halle selbst war intakt, und als sie die Treppe in die Fertigungssäle hinabstiegen, bot sich ihnen ein verrücktes Bild: Die Nähmaschinen waren vom Boden auf die Zuschneidetische gestellt worden, so, als sollten Riesen daran arbeiten. Und der gesamte, gut hundert Quadratmeter große Saal war eine einzige spiegelnde Eisfläche – aus der nur hier und dort ein Stuhlbein, eine große Garnspule, eine Bank, die Spitze einer Schere herausragte. Irgendwann in diesem schier endlosen Winter hatte plötzlich Tauwetter eingesetzt. Ein Temperaturanstieg von fünfundzwanzig Grad innerhalb eines Tages! Rasend schnell schmolzen Schnee und Eis, kamen ins Rutschen, kamen ins Fließen – und die Wassermassen ergossen sich auch in die tiefliegende Näherei. Hastig brachten die Arbeiterinnen die Maschinen in Sicherheit, dann flohen sie vor dem Wasser – und binnen Stunden fiel das Thermometer wieder, gefror das Wasser und schloss alles ein, was in der Näherei stand. Nun galt es zu warten, bis wieder Tauwetter einsetzte.
    Es gab viele solcher bizarren Bilder, manche Orte wirkten wie eine Kinokulisse, die Bauten hergerichtet von skurrilen und ein wenig morbiden Filmarchitekten. Die Soldaten lachten über die Näherei
on the rocks
und machten Fotos, aber es gab auch andere Orte.
    Man hatte ihnen den Flughafen Tempelhof gezeigt, den
Zentralflughafen
, mitten in der Stadt gelegen. Sein Hauptgebäude umspannte das Rollfeld mit weiten Schwingen auf einer Länge von über einem Kilometer. Wenn man auf den Flughafen zuging, öffneten sich andere Gebäude wie Spangen. Alles war hier zentral ausgerichtet, auf eine Mitte hin, alles war großartig, imposant, war kalter Marmor und Stahl und

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