Die Geliebte des Trompeters
Tee. Man lachte sie aus. Brühe konnte sie haben oder ein Bier. Die Brühe roch nach Abwaschwasser, also bestellte Riccarda Bier. Das Bier schmeckte metallisch und biss in den Magen und machte noch müder. Riccarda stützte beide Ellenbogen auf den Tresen. Den Rucksack setzte sie nicht ab, sicherte den Koffer zwischen ihren Beinen. Die Wirtin schaute missbilligend, wies ihr aber schließlich den Weg zum Rotkreuzbunker – da können Se schlafen! Und zusammen mit hunderten anderen schob sich Riccarda die Treppe hinab. Weiße Marken für diejenigen, die nur ein wenig ausruhen und sitzen wollten, gelbe für die, die schlafen wollten: Fünfzig Pfennige, Fräulein! Und die Papiere, bitte!
Der Männerschlafsaal roch schlimmer als ein Viehstall, und das Vieh, das hier zusammengepfercht Ruhe suchte, brüllte und schnaubte im Dämmer. Riccarda machte, dass sie weiterkam. Frauenschlafsaal, fünfte Reihe, dritter Abschnitt, zweite Etage. Riccarda schob erst ihren Rucksack und den schweren Mantel nach oben, dann kletterte sie hinauf, zog die feuchten Schuhe aus und versuchte, alles um sich herum so zurechtzurücken, dass sie schlafen konnte. Gib Ruhe!, zischte eine aus dem Dunkel, und Riccarda hielt ärgerlich inne. Wie sollte sie …?
Aber nicht sie war gemeint, sondern eine unter ihr. Eine, die anhaltend greinte und weinte, die versuchte, dieses Weinen zu unterdrücken, so dass es wenige Augenblicke später umso heftiger wieder hervorbrach, als krampfhaftes Schlucken und Schluchzen. Riccarda hielt es nicht lange aus. An Schlaf war nicht zu denken. Sie beugte sich über den Rand ihres Strohlagers hinunter zu der Weinenden und fragte: Was |35| ist denn los? Gar nicht freundlich fragte sie, aber die Frau hob den Kopf, schaute in die Richtung der Fragenden und Riccarda konnte ein helles Gesicht erkennen, mit schmutzigen Schlieren darin und glitzerndem Rotz. Und noch etwas anderes: Blut. Blut an der Nase und am Kinn. Die Frau bewegte sich, und ein furchtbarer Gestank stieg von ihr auf. Instinktiv wandte Riccarda den Kopf ab. – An der Grenze … Die Frau stöhnte. – Schau mich an … Sie warf sich wieder zur Seite. Wieder dieses Stöhnen.
Riccarda wusste nicht, was sie tun sollte. Die Frau brauchte Verbandszeug, etwas, das das Blut stillen würde. – Vergewaltigt. Sagte die fremde Frau plötzlich leise, aber klar und deutlich. Sieben mal. Sieben Männer. Sieben … Sie begann wieder zu schluchzen, umfing in ihrem Schmerz mit den Armen die Knie, als könnte sie sich an sich selber festhalten oder als müsste sie sich zusammenhalten, damit sie nicht auseinanderfiel. Fest hielt die fremde Frau ihre gebeugten Beine, und wie sie so jammerte und klagte, kam sie fast ein wenig ins Schaukeln, sosehr es die enge Bettstatt eben zuließ – das Schaukeln eines ungetrösteten Kindes. Das Metall der Stockbetten quietschte, Riccarda kam es so vor, als finge es sogar an, ein wenig zu schwanken, als die Bewegungen der Frau heftiger wurden: O nein, o nein … sieben waren es … Und immer wieder das Schreckenswort: vergewaltigt …
Nebenan beschwerten sie sich mittlerweile. Riccarda kletterte zu der Verletzten hinunter. Aber die, die sie eben noch zum Schauen aufgefordert hatte, wandte sich nun schamvoll ab. Riccardas Augen waren längst an das Dunkel gewöhnt. Auf dem Stroh war Blut und auch auf dem Mantel der Frau. Und ein Geruch, der in Riccardas Erinnerung etwas weckte, etwas, das sie auf keinen Fall anschauen konnte, etwas, das sie nicht ertragen würde, etwas, das sie in Panik versetzte, ihr das Bier aus dem Magen zurück in die Kehle presste und mit |36| dem Bier und dem hastig verschlungenen Brot etwas anderes, Galliges…
Riccarda floh. Sie floh vor der Frau, und sie floh vor der eigenen Erinnerung.
Sie sah sich und Renate in der Küche stehen, weinend, vor sich eine Schüssel mit Wasser. Sie sah, wie sie sich zu waschen versucht hatten. Wie rot Renates Haut gewesen war, wie dunkel sich Striemen abzeichneten. Wie sie geschrubbt hatten und gebürstet. Unbarmherzig. Voller Abscheu. Immer und immer wieder. Wie sie gezittert hatten. Wie geweint. Wie sie sich nicht hatten anschauen können und doch schauten. Kleine Schwester! Große Schwester! Nie würde sie Renate anschauen können, ohne daran zu denken. Und sich selbst auch nicht.
Riccarda floh. Sie raffte ihren Mantel und den Rucksack zusammen und presste sich an den anderen, den Neuankömmlingen vorbei, die unwillig murrten und was soll denn das! riefen,
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