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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Die Frauen probierten sich aus. Sie versuchten eine neue Weiblichkeit. Eine neue Weiblichkeit nach dem Krieg.
    Chet spazierte weiter, am Zeitungskiosk vorbei. Der Kiosk war auch eine Art Nachrichtenbörse, seine Seitenwände waren über und über mit kleinen Zetteln beklebt:
Suche   … Hat jemand   … Brauche dringend   …
Private Nachrichten und die der Welt hingen hier konkurrierend nebeneinander. Chet versuchte, die Schlagzeilen zu lesen. Er war verblüfft, wie viele Zeitungen es zu kaufen gab. Hatten die Berliner nichts Dringenderes zu tun? Neben dem neu gegründeten
Tagesspiegel
und dem
Telegraf
gab es auch
Die Welt
und natürlich den englischsprachigen
Observer.
Chet konnte sich nicht erinnern, dass zu Hause eine Tageszeitung gelesen worden wäre. Mum blätterte gelegentlich in Zeitschriften, die ihr eine Nachbarin überließ. Aber darin ging es hauptsächlich um Kochrezepte, die Mum sorgfältig abschrieb, an deren Umsetzung sie sich aber nie versuchte. Mum war nicht gut im Kochen. Sie war, sagte sie, zu nervös. Dad beklagte sich darüber, aber in Wahrheit war es ihm egal. Er war kein Feinschmecker. |193| Und auch Dad las so gut wie nie, außer die Anzeigen für Gebrauchtwagen. Darin ähnelte ihm sein Sohn: Sie träumten beide immerzu von noch besseren Wagen.
    Die Leute hier aber waren versessen auf Nachrichten. Es war geradezu eine Obsession. Auf jedem Platz, an jeder Straßenecke sah man die Zeitungsleser herumstehen, und in der Bahn lasen meist mehrere mit: die, die hinter oder neben dem Zeitungsbesitzer standen. Zwischen den Zeitungsaushängen hatte der gutmütige Kioskbesitzer Dutzende von Zetteln platziert, die ihm hilfesuchende Nachbarn zugesteckt hatten: Sie suchten ihre Angehörigen. Die Welt stand in den Schlagzeilen der großen Zeitungen, das Lokale fand in Form von weitergereichten Zetteln statt.
    Chet bummelte weiter. Ein Bäcker, der bisweilen Brot hatte. Ein Kolonialwarenladen. Das ehemalige Gardinengeschäft, ausgebrannt, und, zwischen zur Unkenntlichkeit zerstörtem Mobiliar die Reste einer gestreiften Markise, geschmolzene Gardinenstangen, der Rest eines Werbeplakats
:   … modernste …
Mehr war nicht zu lesen. Das Geschäft war, so hatte ihm Ricky mühsam erklärt, sofort geplündert worden. Seitdem liefen viele Nachbarinnen mit brokatfarbenen und goldenen Troddeln an den umgeschneiderten Wehrmachtsmänteln herum, sie waren ja gierig nach allem, was ein wenig schmückte. Die Ladeninhaberin hatte ihre Ware natürlich wiedererkannt und strafte alle Übeltäterinnen mit Verachtung. Aber Verachtung beeindruckte hier keinen mehr.
    Eine zusammengesackte Fassade. Ein Haus, so hohl wie ein Baum, den ein Blitz getroffen hat. Ein Pferdefuhrwerk trottete vorbei. Chet kannte den Kutscher: Er lieferte das Bier in den
Felsenkeller
. Aber nicht nur das. Der Kutscher verlieh seine Pferde auch zur Feldarbeit. Im Tiergarten, rund um die Siegessäule, wurde Ackerbau betrieben. Die Siegesgöttin auf ihrer prächtigen Säule thronte nicht mehr über ordentlichen |194| Buchsbaumspalieren, sondern über dem langsam wachsenden, goldgelben Korn.
Die Fuchsjagd
, ein bronzenes Reiterstandbild, das den Jäger auf seinem entspannten Pferd inmitten tollender Hunde zeigte, wirkte hingegen auf natürliche Weise eingebettet. Chet hatte es nicht glauben können: Farming mitten in der Stadt! Aber Ricky hatte gelacht und eine kreisende Handbewegung über ihren Magen gemacht, und dann war, mit gewaltigem Geschepper, Kaspars Pferdefuhrwerk aufgetaucht, und zwischen Kutschbock und Bier war noch Platz für das junge Paar gewesen; gutmütig hatte Kaspar sie mitgenommen. Jetzt tippte er mit der Hand an die Mütze: Er hatte den jungen GI erkannt. Manchmal ging es in Berlin zu wie in einem Dorf.
    Das Lokal auf der anderen Straßenseite hatte Chet vor ein paar Wochen entdeckt, es sah aus wie ein kleines Museum, stellte seine besten Spirituosen und ausgefallenen Tabakwaren in hübschen Vitrinen aus. Das Bier kam aus dem Süden, aus Bayern, und schmeckte süßer als das heimische. In Chets Kopf kam Deutschland nicht vor. Er wusste natürlich mehr oder weniger, wo Berlin lag, Frankfurt, Stuttgart, München – diese Namen sagten ihm etwas, denn aus diesen Städten sendete AFN. Aber sie spielten keine Rolle, höchstens als Stationsnamen. Berlin war ein Kiesel, geworfen in ein Meer aus Rätselhaftigkeit und Feindseligkeit: das gesamte Gebiet ringsumher war von den Russen besetzt und deshalb
No-go-Area
. Nie fragte er sich, wie die

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