Die Geliebte des Trompeters
merkte, dass Lucy ihre Hand hielt und sie streichelte. Wie eine Schwester. Wie Renate, als sie beide noch Zeit für so etwas hatten. In letzter Zeit fühlte sich die Schwester nicht mehr wie eine Schwester an, und die Mutter wirkte umso ferner und unerreichbarer, je mehr sie versuchte, eine normale Mutter zu sein. Irmgard mit ihrem Bestreben nach Normalität war irgendwie unheimlich, unfassbar, unwahrscheinlich. Ricky fragte sich, warum sie jetzt um jeden Preis eine normale |188| Mutter sein wollte. Wer wusste noch, was das war? Und wer würde ihr diese Rolle abkaufen? Sie bestimmt nicht, hatte sich Ricky geschworen, sie konnte ihr sowieso nichts mehr glauben, seit jenem Abend im Keller, als die fremden Soldaten gekommen waren. Jetzt schüttelte sie die Erinnerung. Ricky kamen die Tränen. Ihr wurde wieder kalt. Und dann warm. Lucy streichelte sie unbeeindruckt weiter. Dann fielen Ricky die Augen zu. Lucy und Steve schoben die anderen hinaus.
Wie oft war er hier in letzter Zeit herumgestromert? Allein? Ohne mit seiner Liebsten verabredet zu sein? Das war sie doch, seine Liebste? Sein Darling? Ricky. Sie war ein ziemlich erwachsenes Mädchen, und er hatte es irgendwie geschafft, dass sie bei ihm blieb. Das gefiel ihm. Aber etwas war anders in letzter Zeit. Sie war anders. Sie war ungeduldiger mit ihm. Sie wollte so viel wissen. Sie wollte Fotos sehen von seiner Familie. Chet war nicht stolz auf seine Familie. Sicher, sie waren aus dem Gröbsten raus, seit Mum eine Anstellung gefunden und sie das Holzhaus bezogen hatten – aber gemessen an dem, was Chet in Dahlem und Zehlendorf gesehen hatte, war das ein Nichts. Ein Dreck.
Gut, Ricky kam nicht aus den feinen Villenvororten, ihr Schöneberger Wohnviertel bestand aus drei- und viergeschossigen Mietshäusern, die gestaffelt zu zweien oder dreien hintereinanderstanden. Und dennoch: Etwas war hier anders. Ganz anders als Glendale. Es war so – alt. Manchmal lachten sie darüber, er und Dick und Fernando, über die Gerüche, die aus den wenigen intakten Kellern kamen. Es roch wie aus Gräbern, dachten sie, oder so, wie sie sich Grabesgeruch dachten. Zuhause war er zu jung gewesen, um Gräber zu kennen – und hier war er zu spät gekommen für die andere, die ganz große Beerdigung. Er stellte sich dennoch etwas vor unter Grabgeruch. |189| Er stellte sich vor, wie das Lebendige der Stadt auf etwas Totem ruhte. Das Heutige wuchs auf Vergangenem. Da, wo die Bomben der Alliierten nicht alles eingeebnet hatten – Vergangenheit und Gegenwart, Schmuckes und Schäbiges – konnte man es deutlich sehen.
Chet hatte bisher nicht gewusst, dass er sich für Architektur interessierte. Wird Zeit, dass ich mir eine runde Nickelbrille zulege!, dachte er, wie immer misstrauisch gegen sich selbst, wenn er zu viel dachte. Zu viel denken war nicht gut. Mit Denken kommst du nicht weit! Hatte ihm Dad immer eingebleut. Da oben ist nicht genug drin! Und schon hatte er ihm mit harten Fingerknöcheln an die Stirn geklopft: Da oben – alles hohl! Und hatte gelacht.
Chet hasste ihn wegen dieser Sätze, und er hasste ihn wegen seiner Grobheit – und doch spürte er, dass etwas dran war. Beim Denken stieß er oft an eine Grenze, eine unsichtbare Mauer. Es ging einfach nicht weiter, es war wie in der
Lily-Lane
in
Downtown Glendale
, die plötzlich an irgendeiner Brandmauer endete – eine nette Straße, in einem netten Vorort, und gerade, wenn man ins Bummeln kam, war plötzlich Schluss, einfach so, vor einer roten Backsteinwand – und das machte ihn wütend und unzufrieden. Dann schnappte er sich zu Hause Dads billigen Whiskey, oder sie schwatzten Normans Vater den Dodge für eine Runde ab, denn wenn sie durch die Nacht brausten, verlor sich die Spannung in seinem Kopf.
Er und ein Intellektueller! Darüber musste er selbst lachen. Trotzdem schaute er sich die Häuser ganz genau an. Seine Häuser, wie er inzwischen dachte. Inzwischen kannte er die Gegend um Rickys Haus ganz gut. Er trieb sich hier öfters herum, seit sich Ricky so veränderte. Er wollte wissen, was sie trieb. Sicher nichts Gutes! Und er wollte wissen, wie sie lebte. Nie hatte sie ihn mit nach Hause genommen – und als er einmal darauf bestanden hatte, hatte sie einen schlimmen |190| Streit begonnen. Noch nie hatte er sie so außer sich erlebt. Schämte sie sich mit ihm? Dabei war es durchaus üblich, dass die deutschen
Frauleins
ihre Verlobten vorstellten. Na ja, so richtig verlobt waren sie eigentlich nicht. Chet wurde es
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