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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Menschen anderenorts lebten, ob andere Städte ebenso zerstört waren wie Berlin.
    Chet betrat den Felsenkeller; man grüßte ihn auch hier. Er legte seine Mütze auf den Tresen und suchte sich eine Ecke, von der aus er einen guten Überblick auf die Straße hatte. Heute war ihm nicht nach Süße. Er bestellte ein
Kulmbacher
, indem er auf das entsprechende Schild wies. Unmöglich, |195| das auszusprechen. Er wartete. Im
Felsenkeller
hörten sie immer eine deutsche Radiostation. Sie spielten amerikanische Schlager, aber mit deutschen Texten. Irgendwann musste Ricky nach Hause kommen.
     
    Ricky wollte nicht zugeben, dass ihr schlecht war. Sterbenselend. Sie hatte die heiße Schokolade in großen Schlucken getrunken, die ihr Lucy gebracht hatte. Steve hatte ihr dabei den Rücken gestützt, und die beiden hatten sie so besorgt und liebevoll angeschaut, dass Ricky weitertrank, selbst, als sie längst genug hatte. Es war die Milch. Die fette, ungewohnte Milch. Und der Kakao. Und die Menge. Ricky spürte, wie die heiße Flüssigkeit durch ihren Körper rann, wenn sie sich bewegte, glaubte sie, dass es hin- und herschwappte. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, rülpste, ein Geruch nach Schokolade stieg in ihr auf. Steve lachte und klopfte ihr leicht auf die Schulter. Die beiden fragten Ricky aus, so gut es ging. Ließen ihr Zeit.
    Dann beschlossen sie, dass Steve sie nach Hause bringen würde. Nein, keine Widerrede! Am Fahrstuhl nahm Lucy Ricky in den Arm. Es war fast so, als hätte sie lieben Tanten und Onkeln einen Besuch abgestattet, und die verabschiedeten sie nun in der Diele. Nur, dass von dieser Diele ungeheuer viele Türen abgingen, dass der Flur länger war als drei Kegelbahnen hintereinander und dass der letzte der Kegelbahn-Flure in den nächsten mündete und dann wieder in den nächsten. Die Wände waren holzvertäfelt, und überall standen amerikanische Flaggen. Die fröhlichen roten und weißen Streifen. Ricky fand, dass die Flagge Mut machte. Und sie dachte an den ersten Tag mit Chet, als er sie in sein Handtuch eingehüllt hatte. Wie lange war das jetzt her?
    Im Aufzug gab es Licht aus kleinen, kreisrunden Löchern. Im Erdgeschoss mussten sie weit laufen, bis sie zur Eingangshalle |196| kamen. Ricky staunte. Zwar hatte es hier gebrannt, aber der gemusterte Marmor auf dem Fußboden war erhalten – und die Pfeiler! Riesig hohe Pfeiler ragten nach oben zur schwarz verbrannten Decke. Unwillkürlich blieb Ricky stehen, legte den Kopf in den Nacken. Steve grinste. Er hatte sich an den Bombast längst gewöhnt. Aber er staunte, wie stark die Wirkung dieser Architektur selbst im halb zerstörten Zustand noch war. Diese verdammten Nazis hatten schon gewusst, was sie taten. Die Leute staunten – und waren eingeschüchtert. Die Nazi-Architektur funktionierte auch ohne Nazis.
    Er schob Ricky nach draußen. Ricky hatte noch nie hier gestanden. Sie hatte den Ehrenhof noch nie betreten. Was für ein verschwenderisch weiter Platz mitten in der Stadt! Aber Steve schob sie weiter. Er war offenbar fest entschlossen, sie bis vor das elterliche Haus zu begleiten. Steve sah gut aus. Er war sehr groß und breitschultrig, seine Haut tatsächlich von jenem Schokoladenbraun, das man den Schwarzen pauschal zuschrieb. Ein Geruch nach Leder und Rasierwasser ging von ihm aus, ein überwältigender Wohlgeruch. Ricky taumelte ein wenig. Steve hakte sie besorgt ein, machte hin und wieder kleine Pausen, bot ihr eine Zigarette an. Am Kaiser-Wilhelm-Platz wollte sich Ricky verabschieden, aber Steve schüttelte den Kopf und lächelte:
No way
… Und wieder gab sie nach. Gegen die ruhige Stärke dieses Mannes kam man nicht an. Und es tat gut, nachzugeben. Sie fühlte sich schwach und unendlich müde.
    Plötzlich stürzten Kinder aus dem Hinterhof bei der Gerberei. Eine ganze Horde von Kindern, und sie schrien, als hätten sie eine großartige Entdeckung gemacht. Die Entdeckung war Steve. Schwarze Soldaten waren immer noch eine Sensation, und die Erfahrung hatte die Gören längst gelehrt, dass amerikanische Soldaten selten ohne Süßigkeiten |197| in ihren Taschen unterwegs waren. Steve lachte und schob sich ein wenig beschützend vor Ricky. Die schaute auf die struppigen Köpfe, die verschmierten Gesichter und die dünnen, bloßen Beine der Kinder. Kinder kamen offenbar nur noch in Banden vor. Stundenlang war es still in den Straßen, und plötzlich stoben sie irgendwo hervor: Mädchen und Jungen jeden Alters, die in den Ruinen wie auf

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