Die Geliehene Zeit
Aber meist zog ich es vor, nicht darüber nachzudenken. Ich ließ die Tage kommen und gehen, einen nach dem anderen, vermied es, an die Zukunft oder die Vergangenheit zu denken, und lebte nur in der Gegenwart.
Seines Idols beraubt, ließ Fergus den Kopf hängen. Immer wieder sah ich von meinem Fenster aus, wie er mit tieftrauriger Miene unter dem Weißdorn im Garten saß und auf die Straße nach Paris hinausblickte. Schließlich raffte ich mich auf und ging zu ihm.
»Hast du denn nichts zu tun, Fergus?« fragte ich ihn. »Gewiß kann einer der Stallburschen Hilfe gebrauchen.«
»Ja, Madame«, meinte er zweifelnd. Er kratzte sich geistesabwesend am Po. Mit mißtrauischem Blick beobachtete ich ihn dabei.
»Fergus«, sagte ich mit verschränkten Armen, »hast du Läuse?« Er zog seine Hand weg, als hätte er sich verbrannt.
»Aber nein, Madame!«
Ich griff nach ihm und steckte einen Finger in seinen Kragen, so daß der schmutzige Ring um seinen Hals sichtbar wurde.
»Baden«, befahl ich knapp.
»Nein!« Er zuckte zurück, aber ich packte ihn an der Schulter. Seine Heftigkeit überraschte mich. Zwar begeisterte ihn die Aussicht auf ein Bad nicht mehr als jeden anderen Bewohner von Paris - die Vorstellung, ins Wasser zu tauchen, erweckte in ihnen einen an Entsetzen grenzenden Widerwillen -, aber in diesem kleinen Teufel, der sich unter meiner Hand wand und krümmte, erkannte ich das sonst so fügsame Kind kaum wieder.
Ich hörte Stoff reißen, dann war er frei und sprang wie ein Hase auf der Flucht vor dem Wiesel durch die Brombeerbüsche. Laub raschelte, Steine knirschten, und fort war er. Er kletterte über die Mauer und strebte auf die Nebengebäude hinter dem Haus zu.
Ich versuchte mich im Labyrinth der baufälligen Nebengebäude hinter dem Chäteau zurechtzufinden und umrundete leise fluchend Dreckpfützen und Müllhaufen. Da hörte ich plötzlich einen hohen, wimmernden Laut. Vor mir erhob sich ein Schwarm Fliegen von einem Haufen. Ich war jedoch noch nicht nahe genug herangekommen, um sie aufgescheucht zu haben. In dem dunklen Eingang hinter dem Misthaufen mußte sich etwas bewegt haben.
»Aha!« rief ich. »Hab’ ich dich, du schmuddeliges, kleines Biest! Komm auf der Stelle heraus!«
Niemand erschien, aber im Stall entstand Unruhe, und ich meinte im Schatten etwas weiß aufleuchten zu sehen. Ich hielt mir die Nase zu, stieg über den Misthaufen und trat in den Stall.
Ein zweimaliger Aufschrei des Entsetzens war zu hören: von mir, als ich an der hinteren Wand jemanden erblickte, der aussah wie ein Wilder aus Borneo, und von ihm, als er mich sah.
Das Sonnenlicht, das durch die Ritzen zwischen den Brettern drang, spendete genug Licht. Bei näherer Betrachtung sah er nicht ganz so schrecklich aus, wie ich zunächst gedacht hatte, aber auch nicht viel besser. Sein Bart war ebenso schmutzig und verfilzt wie seine Haare, die auf sein zerlumptes Hemd fielen. Er war barfuß, und wenn der Ausdruck sans-culottes noch nicht allgemein gebräuchlich war, so trug er jedenfalls keine Schuld daran.
Ich hatte keine Angst vor ihm, da er so offensichtlich Angst vor mir hatte. Er drückte sich gegen die Wand, als hoffte er, sie auf dem Wege der Osmose durchdringen zu können.
»Schon gut«, beruhigte ich ihn. »Ich tue Ihnen nichts.«
Doch offenbar glaubte er mir nicht, denn er richtete sich abrupt auf, griff in seine Hemdbrust und zog ein hölzernes Kruzifix an einem Lederband heraus. Er hielt es mir entgegen und begann mit angstbebender Stimme zu beten.
»Verflixt«, murmelte ich unwirsch. »Nicht schon wieder!« Ich atmete tief ein. »Pater-Noster-qui-es-in-coelis-et-in-terra...« Seine Augen traten hervor, und er hielt weiterhin sein Kruzifix umklammert, hörte aber angesichts meiner Darbietung selbst auf zu beten.
»...Amen!« schloß ich, nach Luft schnappend. Ich hielt beide Hände hoch und fuchtelte vor seinem Gesicht herum. »Sehen Sie? Bei keinem Wort gestockt, kein einziges quotidianus da nobis hodie an der falschen Stelle, oder? Ich habe nicht einmal die Finger gekreuzt. Also kann ich keine Hexe sein, nicht wahr?«
Der Mann ließ das Kruzifix langsam sinken und starrte mich mit offenem Mund an. »Eine Hexe?« sagte er. Er sah mich an, als wäre ich verrückt, was unter den gegebenen Umständen ein starkes Stück war.
»Sie haben mich nicht für eine Hexe gehalten?« fragte ich und kam mir ein klein wenig albern vor.
Im Gewirr seines Bartes kam so etwas wie ein Lächeln zum Vorschein, verschwand
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