Die Geliehene Zeit
Schleier war voller Sorge. Doch in ihren Augen sah ich Resignation. Die Schwestern wußten, daß ich bald sterben würde - Schwester Angelique machte sich darauf gefaßt, den Priester zu rufen, falls dies mein letzter Kampf sein sollte.
Ihre kleine, feste Hand streichelte meine Wange, berührte dann rasch meine Stirn und kehrte zur Wange zurück. Das Laken lag zerknüllt um meine Hüften, mein Hemd war offen. Ihre Hände glitten unter meine Achselhöhlen, wo sie kurz verweilten.
»Gott sei gelobt!« rief sie mit Tränen in den Augen. »Das Fieber ist gesunken!« Sie beugte sich über mich. Von plötzlicher Unruhe erfaßt, wollte sie sehen, ob das Verschwinden des Fiebers nicht etwa auf mein Ableben zurückzuführen war. Ich lächelte matt.
»Es geht mir gut. Sagen Sie es der Mutter.«
Sie nickte eifrig, verweilte nur noch kurz, um meine Blöße mit dem Laken zu bedecken, und eilte von dannen. Kaum hatten sich die Vorhänge hinter ihr geschlossen, da kroch Raymond unter dem Bett hervor.
»Ich muß gehen.« Er legte seine Hand auf meinen Kopf. »Alles Gute, Madonna.«
Schwach wie ich war, richtete ich mich auf und griff nach seinem Arm. Ich betastete seinen Oberarm, wurde aber nicht fündig. Bis hinauf zur Schulter war die Haut makellos. Erstaunt starrte er mich an.
»Was tun Sie da, Madonna?«
»Nichts.« Enttäuscht sank ich auf mein Kissen. Ich war zu schwach und zu benommen, um auf meine Worte zu achten.
»Ich wollte sehen, ob Sie eine Impfnarbe haben.«
»Impfnarbe?« Inzwichen verstand ich mich so gut darauf, Menschen zu durchschauen, daß es mir nicht entgangen wäre, wenn sich
in seinem Gesicht das leiseste Begreifen gezeigt hätte. Aber ich sah nichts.
»Warum nennen sie mich immer noch Madonna?« fragte ich. Meine Hände ruhten auf meinem Bauch, ganz sanft, um diese schreckliche Leere nicht zu stören. »Ich habe mein Kind verloren.«
Er wirkte ein wenig überrascht.
»Ah. Ich habe Sie nicht deshalb Madonna genannt, weil Sie ein Kind erwarten, Madame.«
»Warum dann?« Ich rechnete eigentlich nicht mit einer Antwort, aber ich erhielt sie. Müde und ausgelaugt, wie wir beide waren, schien es, als befänden wir uns an einem Ort, wo weder Zeit noch Kausalität existierten. Zwischen uns gab es nur noch Raum für die Wahrheit.
Er seufzte.
»Jeder Mensch ist von einer Farbe umgeben«, sagte er einfach, »eine Farbe, die den Körper wie eine Wolke einhüllt. Ihre Farbe ist Blau, Madonna. Blau wie der Umhang der Jungfrau Maria. Blau wie meine Farbe.«
Die Gazevorhänge blähten sich leise auf, und er war verschwunden.
26
Fontainebleau
Ich schlief mehrere Tage lang. Ob das ein notwendiger Schritt zur körperlichen Genesung war oder ein trotziger Rückzug aus der Realität, weiß ich nicht, aber ich erwachte nur widerwillig, um ein wenig zu essen, und sank dann sofort wieder in den Schlaf des Vergessens, als wäre das bißchen warme Suppe in meinem Magen ein Anker, der mich in die düsteren Tiefen der Bewußtlosigkeit hinunterzog.
Einige Tage später wurde ich von hartnäckigen Stimmen in nächster Nähe geweckt, und ich spürte Hände, die mich aus dem Bett hoben. Offenbar wurde ich von starken Männerarmen gehalten, und für einen Augenblick war ich selig vor Freude. Doch dann wurde ich richtig wach und kämpfte matt gegen die Welle von Tabak und billigem Wein an, die mir entgegenschlug, und stellte fest, daß ich von Hugo, Louise de La Tours kräftigem Lakai, gehalten wurde.
»Lassen Sie mich runter!« protestierte ich und schlug kraftlos nach ihm. Verblüfft über diese plötzliche Auferstehung von den Toten, hätte er mich beinahe fallen lassen, doch eine hohe, befehlsgewohnte Stimme gebot uns beiden Einhalt.
»Claire, meine liebe Freundin! Fürchte dich nicht, ma chère, es ist alles in Ordnung. Ich nehme dich mit nach Fontainebleau. Gute Luft und gutes Essen - das ist es, was dir fehlt. Und Ruhe, du brauchst viel Ruhe...«
Ich blinzelte ins Licht. Louises Gesicht, rund, rosig und besorgt, schwebte vor mir wie ein Cherub auf einer Wolke. Hinter ihr stand Mutter Hildegarde, groß und streng wie der Engel am Tor zum Paradies.
»Jaa, sagte Mutter Hildegarde; dank ihrer tiefen Stimme besaß auch das schlichteste Wort aus ihrem Mund weit mehr Gewicht als
Louises aufgeregtes Gezwitscher. »Es wird Ihnen guttun. Au revoir, meine Liebe.«
Und dann wurde ich die Stufen des Spitals hinuntergetragen und in Louises Kutsche gesetzt. Das Holpern der Kutsche hielt mich während der Reise nach
Weitere Kostenlose Bücher