Die Geliehene Zeit
meine Richtung.
»Verzeihen Sie mir, wenn ich mich einmische, Madame. Berta und Maurice haben mir von Ihrem Verlust erzählt. Es tut mir leid, Madame.«
»Ich danke Ihnen«, sagte ich und starrte auf die Streifen, die das Sonnenlicht auf den Boden malte.
Wieder herrschte Schweigen, dann fragte Pastor Laurent feinfühlig: »Ihr Mann, Madame? Ist er nicht hier bei Ihnen?«
»Nein«, erwiderte ich, den Blick immer noch auf den Boden geheftet. Fliegen schwirrten durchs Licht, machten sich aber bald davon, da sie keine Nahrung fanden. »Ich weiß nicht, wo er ist.«
Ich wollte eigentlich nicht weitersprechen, aber etwas bewog mich, den zerlumpten Prediger anzusehen.
»Seine Ehre war ihm wichtiger als ich oder sein Kind oder ein unschuldiger Mann«, erklärte ich verbittert. »Mir ist es gleich, wo er ist. Ich will ihn niemals wiedersehen!«
Erschüttert hielt ich inne. Ich hatte das niemals zuvor in Worte gefaßt. Aber es war die Wahrheit. Es hatte tiefes Vertrauen zwischen uns geherrscht, und Jamie hatte es um seiner Rache willen zerstört. Ich verstand ihn: Ich kannte die Gewalt der Gefühle, die ihn trieben, und wußte, daß sie sich nicht auf ewig unterdrücken ließen. Aber ich hatte ihn um ein paar Monate Aufschub gebeten, und die hatte er mir gewährt. Und dann hatte er sein Wort gebrochen und damit alles, was zwischen uns war, geopfert. Nicht nur das: Er hatte das Vorhaben gefährdet, das wir unternommen hatten. Ich verstand ihn, aber ich konnte ihm nicht verzeihen.
Pastor Laurent legte seine Hand auf meine. Sie war schmutzverkrustet, seine Nägel waren abgebrochen und schwarzgerändert, aber ich schreckte nicht zurück. Ich erwartete Plattheiten oder eine Predigt, aber er sagte nichts. Er hielt einfach meine Hand, sehr sanft, sehr lange, während die Sonnenstrahlen über den Boden zogen und um uns herum die Fliegen summten.
»Sie sollten lieber gehen«, sagte er schließlich und ließ meine Hand los. »Man wird Sie vermissen.«
»Das glaube ich auch.« Ich holte tief Luft. Jetzt fühlte ich mich ruhiger, wenn auch nicht unbedingt besser. In der Tasche meines Kleides ertastete ich eine kleine Börse.
Ich zögerte, da ich ihn nicht beleidigen wollte. Schließlich war ich nach seinen Maßstäben eine Ketzerin, auch wenn er mich nicht für eine Hexe hielt.
»Darf ich Ihnen etwas Geld geben?« fragte ich vorsichtig.
Er dachte kurz nach, dann lächelte er, und seine hellbraunen Augen leuchteten.
»Nur unter einer Bedingung, Madame. Wenn Sie erlauben, daß ich für Sie bete?«
»Das ist ein guter Tausch«, sagte ich und gab ihm die Börse.
27
Eine Audienz bei Seiner Majestät
Während jener Tage in Fontainebleau kam ich zwar körperlich allmählich wieder zu Kräften, aber geistig dämmerte ich nur so dahin, mied jede Erinnerung und wollte nichts tun.
Besuch kam nur selten. Das Landhaus war ein Zufluchtsort, wo mir das hektische Treiben der Pariser Gesellschaft wie einer der unangenehmen Träume erschien, die mich quälten. Folglich war ich überrascht, als mich ein Mädchen in den Salon bat, um einen Besucher zu empfangen. Mir schoß der Gedanke durch den Kopf, es könnte Jamie sein, und mir wurde schwindelig. Dann aber schaltete sich mein Verstand ein; Jamie mußte inzwischen nach Spanien abgereist sein, vor Ende August war nicht mit seiner Rückkehr zu rechnen. Und was dann?
Ich konnte mich jetzt nicht damit befassen, also schob ich den Gedanken beiseite.
Zu meiner Verwunderung handelte es sich bei dem »Besucher« um Magnus, den Butler aus Jareds Haus in Paris.
»Verzeihen Sie, Madame«, sagte er mit einer tiefen Verbeugung. »Ich wollte mir nicht anmaßen... aber ich wußte nicht, ob die Angelegenheit nicht vielleicht von Wichtigkeit ist... und da der Herr fort ist...« Außerhalb seiner gewohnten Umgebung hatte er die ganze Selbstsicherheit eingebüßt, mit der er in seinem kleinen Reich herrschte. Daher dauerte es einige Zeit, ihm eine zusammenhängende Geschichte zu entlocken, aber zu guter Letzt zog er einen Brief hervor, gefaltet, versiegelt und an mich adressiert.
»Es ist die Handschrift von Monsieur Murtagh«, erklärte Magnus mit halb unwilliger Ehrfurcht. Das erklärte sein Zögern. Jareds Dienstboten betrachteten Murtagh mit einer Art respektvollem Schrecken, der sich durch die Berichte über die Ereignisse in der Rue du Faubourg-St.-Honoré noch gesteigert hatte.
Der Brief war vor zwei Wochen in Paris eingetroffen, erklärte Magnus. Unsicher, was sie damit anfangen sollten,
Weitere Kostenlose Bücher