Die Geliehene Zeit
nicht haben können, stimmt’s?«
»Wie wahr«, antwortete ich etwas scharf, »sehr aufmerksam von dir.«
Er lächelte, was er selten tat.
»Ach, schon gut«, erwiderte er.
Nach kurzem Stöbern förderte ich ein Stück Käse und ein paar Äpfel aus den Satteltaschen zutage und reichte sie Jamie, der sie skeptisch musterte.
»Kein Brot?« fragte er.
»Vielleicht ist noch welches in der anderen Tasche. Iß zuerst das, es wird dir guttun.« Er hegte, wie alle Hochlandbewohner, tiefen Argwohn gegen frisches Obst und Gemüse, obwohl ihn sein ungeheurer Appetit dazu verleitete, im Notfall alles zu vertilgen.
»Hmm«, sagte er und biß in einen Apfel. »Wenn du meinst, Sassenach.«
»Ja, das meine ich. Schau.« Ich zeigte ihm meine Zähne. »Wie viele Frauen meines Alters, meinst du, haben noch alle ihre Zähne?«
Er lächelte und entblößte dabei sein tadelloses Gebiß.
»Ich muß zugeben, du hast dich sehr gut gehalten für dein Alter, Sassenach.«
»Gesund ernährt habe ich mich«, erwiderte ich. »Die Hälfte deiner Leute leidet an leichtem Skorbut, und wie ich unterwegs gesehen habe, ist es anderswo noch weitaus schlimmer. Skorbut wird durch Vitamin C verhindert, und das ist in Äpfeln enthalten.«
Er nahm den Apfel, in den er eben hineinbeißen wollte, wieder aus dem Mund und betrachtete ihn argwöhnisch.
»Wirklich?«
»Ja, wirklich«, bestätigte ich. »Und auch in den meisten anderen Obstsorten und in Gemüse wie Zwiebeln oder Kohl. Wenn du das jeden Tag ißt, bekommst du keinen Skorbut. Selbst in frischen Kräutern und in Gras findet sich Vitamin C.«
»Mmmpf. Ist das der Grund, weshalb Hirsche und Rehe bis ins Alter ihre Zähne behalten?«
»Vermutlich.«
Er drehte und wendete den Apfel und betrachtete ihn kritisch. Dann zuckte er die Achseln.
»Aye, na gut«, meinte er und biß hinein.
Ich hatte mich eben umgewandt, um das Brot zu holen, als ein Knistern an mein Ohr drang. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich in der Dunkelheit ein Schatten bewegte. In der Nähe von Jamies Kopf blitzte es im Feuerschein auf. Ich wirbelte herum und stieß einen Schrei aus - doch da war er auch schon in der Dunkelheit verschwunden.
Die Nacht war mondlos, und einzig die Geräusche ließen darauf schließen, was da vor sich ging - das Rascheln der Erlenblätter, ein Stöhnen und Ächzen und hin und wieder ein erstickter Fluch. Dann ein kurzer, scharfer Schrei, dann vollkommene Stille. Das alles dauerte wohl nur wenige Sekunden, doch mir erschien es endlos.
Ich stand noch immer wie erstarrt neben dem Feuer, als Jamie aus der unheimlichen Dunkelheit des Waldes auftauchte und einen Gefangenen vor sich herschob, dem er den Arm nach hinten gedreht hatte. Nachdem er seinen Griff gelockert hatte, gab er der Gestalt einen Stoß, so daß sie gegen einen Baumstamm torkelte und im trockenen Laub wie betäubt zu Boden sank.
Vom Lärm herbeigelockt, waren inzwischen Murtagh, Ross und einige andere der Fraser-Männer am Feuer aufgetaucht. Grob zerrten sie den Eindringling auf die Füße und näher an die Flammen heran. Murtagh packte ihn am Haarschopf und riß ihm den Kopf nach hinten, um sein Gesicht besser zu erkennen.
Es war klein und fein geschnitten, mit großen Augen und langen Wimpern. Benommen blickte der Eindringling die Männer an, die einen Kreis um ihn gebildet hatten.
»Aber das ist ja noch ein Kind!« rief ich. »Er ist nicht älter als fünfzehn!«
»Sechzehn!« verbesserte mich der Junge. Er schüttelte den Kopf;
langsam schien er wieder zu sich zu kommen. »Aber das macht wohl keinen großen Unterschied« fügte er hochmütig und mit englischem Akzent hinzu. Hampshire, schoß es mir durch den Kopf. Ganz schön weit weg von zu Hause.
»Richtig«, stimmte Jamie grimmig zu. »Ob sechzehn oder sechzig, er hat eben einen respektablen Versuch unternommen, mir die Kehle durchzuschneiden.« Erst jetzt sah ich das blutrote Taschentuch, das er sich fest an den Hals drückte.
»Von mir erfahrt ihr nichts!«rief der Junge. Seine dunklen Augen stachen scharf aus dem blassen Gesicht hervor, und sein blondes Haar leuchtete im Schein des Feuers. Einen Arm hielt er fest vor die Brust gepreßt, vermutlich, weil er verletzt war. Trotzdem bemühte sich der Junge, aufrecht vor den Männern zu stehen, und preßte die Lippen fest zusammen, um weder Furcht noch Schmerz zu zeigen.
»Gewisse Dinge weiß ich ohnehin schon«, erwiderte Jamie, während er den Jungen musterte. »Erstens bist du Engländer, also gehörst du zu
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