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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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die Seele.«
    Ihre Stimme klang nüchtern, als spräche sie von etwas ganz Selbstverständlichem. Ich überlegte, ob sie wohl selbst häufig so mit ihrem Kind sprach.
    »Auf diese Weise spricht man mit ihnen, bevor sie geboren werden«, sagte sie leise. »Weißt du?«
    Ich legte meine Hände behutsam auf meinen Bauch, eine über die andere. Ja, ich erinnerte mich.
    »Ich weiß.«
    Sie preßte den Daumen gegen die Wange des Babys, das sofort zu trinken aufhörte, und mit einer geschickten Bewegung drehte sie den kleinen Körper zur anderen Brust hin.
    »Ich habe mir überlegt, daß die Frauen vielleicht deshalb so oft traurig sind, wenn das Kind geboren ist«, fuhr sie nachdenklich fort. »Man denkt an das Baby, während man sich mit ihm unterhält, und man macht sich ein Bild von ihm. Dann wird es geboren, und es ist ganz anders. Selbstverständlich liebt man es, und man möchte erfahren, wie es wirklich ist... aber trotzdem, man denkt an das Kind, mit dem man einst gesprochen hat, während man es noch unter dem Herzen trug, und dieses Kind ist nicht mehr da. Ich glaube, es ist die Trauer über das ungeborene Kind, die man empfindet, auch wenn man das Neugeborene in den Armen hält.« Sie beugte sich über ihr Töchterchen und küßte es auf den flaumigen Kopf.
    »Ja«, sagte ich. »Vorher... ist alles nur eine Möglichkeit. Es könnte ein Sohn sein oder eine Tochter. Ein gewöhnliches oder ein schönes Kind. Und dann ist es geboren, und alles, was es sonst noch hätte sein können, ist nicht mehr möglich, denn jetzt ist es da.«
    Sie schaukelte sanft hin und her, und die kleine Hand, die die Falten ihres grünen Morgenmantels fest umklammert hatte, sank herab.
    »Seine Tochter wird geboren, und der Sohn, der sie hätte werden können, ist tot«, setzte sie meine Gedanken fort. »Und der süße kleine Junge hat das kleine Mädchen getötet, das man unter dem
Herzen zu tragen glaubte. Und man weint um das, was man nicht kennengelernt hat, um das, was ein für allemal vorbei ist, bis man das Kind, das man geboren hat, kennenlernt, und dann schließlich ist es, als ob es nie anders hätte sein können, und man empfindet nichts als Freude und Glück. Doch bis es soweit ist, weint man oft.«
    »Und die Männer...« sagte ich in Gedanken an Jamie, der seine Geheimnisse in das unverständige Ohr des Kindes geflüstert hatte.
    »Aye. Sie halten ihr Kind im Arm, und sie spüren, daß etwas möglich gewesen wäre, was nun niemals mehr Wirklichkeit werden wird. Aber es fällt einem Mann nicht leicht, um das zu weinen, was er nicht kennt.«

SECHSTER TEIL
    Die Flammen des Aufstands

36
    Prestonpans
    Schottland, September 1745
    Nach viertägigem Marsch gelangten wir zu einem Berg nahe Calder, vor dem sich ein weites Moor erstreckte. Doch wir schlugen unser Lager im Schutz der weiter oben gelegenen Bäume auf. Zwei Flüßchen durchschnitten den moosbewachsenen Berghang, und das frische frühherbstliche Wetter ließ das Ganze eher wie einen Ausflug ins Grüne als einen Kriegszug erscheinen.
    Doch es war der siebzehnte September, und wenn mich mein bruchstückhaftes Wissen über die Geschichte der Jakobiten nicht trog, würde es in wenigen Tagen Krieg geben.
    »Erzähl es mir noch einmal, Sassenach«, hatte Jamie zum x-ten Male gebeten, während wir die gewundenen Pfade und die morastigen Wege entlangzogen. Ich ritt auf Donas, Jamie ging zu Fuß neben mir her. Doch jetzt stieg ich ab, um besser mit ihm sprechen zu können. Donas und ich waren zu einer Art gegenseitigem Einvernehmen gelangt, doch es war ein Pferd, das die volle Aufmerksamkeit des Reiters erforderte. Nur allzugern warf er einen unachtsamen Reiter ab, etwa indem er sich unter niedrigen Ästen hindurch einen Weg suchte.
    »Ich habe dir doch schon gesagt, daß ich nicht allzuviel darüber weiß«, erwiderte ich. »Die Geschichtsbücher geben nur spärlich Auskunft, und früher habe ich diesen Ereignissen keine große Beachtung geschenkt. Ich kann dir nur sagen, daß es zur Schlacht kam - äh, kommen wird -, und zwar in der Nähe der Stadt Preston. Darum wird sie auch die Schlacht von Prestonpans genannt.«
    »Aye. Und weiter?«
    Angestrengt versuchte ich, mich an weitere Einzelheiten zu erinnern. Ich sah das kleine, zerfetzte braune Exemplar der Geschichte Englands für Kinder deutlich vor mir, das ich beim flackernden
Licht einer Kerosinlaterne in einer Lehmhütte irgendwo in Persien gelesen hatte. Obwohl ich im Geist Seite für Seite umblätterte, konnte ich mich

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