Die Geliehene Zeit
leise. »Das tust du wohl.«
Eine Zeitlang blieben wir schweigend stehen. Ich hörte nur das leise Gemurmel der Männer, die sich zur Nachtruhe legten, und hin und wieder das Stampfen schwerer Stiefel und das Rascheln von Blättern, die man zum Schutz gegen die herbstliche Kälte aufgehäuft hatte. Meine Augen hatten sich mittlerweile so weit an die Dunkelheit gewöhnt, daß ich bereits unser Zelt erkennen konnte, das in etwa zehn Metern Entfernung im Schutz einer großen Lärche stand. Und auch Jamie sah ich jetzt genau, dessen Gestalt sich dunkel vor der helleren Nacht abzeichnete.
»Also gut«, sagte ich nach einer Weile.»Du hast recht. In Anbetracht der Möglichkeiten... ja, du hast recht.«
»Danke.« Ich wußte nicht, ob er lächelte, aber seine Stimme klang so.
»Du hast aber verdammt Glück gehabt«, sagte ich. »Wenn ich nicht dagewesen wäre und dir eine Ausrede geliefert hätte, was hättest du dann gemacht?«
Jamie zuckte die Achseln, und es schien, als ob er in sich hineinlachte.
»Ich weiß es nicht, Sassenach. Ich hatte damit gerechnet, daß du mir hilfst. Wenn du es nicht getan hättest - tja, dann hätte ich den Burschen wohl erschießen müssen. Ich hätte ihn doch kaum enttäuschen und einfach so laufenlassen können, oder?«
»Du verdammter schottischer Scheißkerl«, erwiderte ich trokken.
Er seufzte erschöpft. »Sassenach, seit dem Abendessen - das ich noch nicht einmal in Ruhe zu Ende essen konnte - bin ich niedergestochen, gebissen, geschlagen und ausgepeitscht worden. Normalerweise macht es mir keinen Spaß, Kinder zu Tode zu erschrecken und Männer auszupeitschen, und doch mußte ich heute beides tun. In fünf Kilometern Entfernung lagern zweihundert Engländer, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie man sie aufhalten kann. Ich bin müde, hungrig und verletzt. Wenn du auch nur einen Funken weibliches Mitgefühl für mich übrig hast, könnte ich es gut gebrauchen.«
Seine Stimme klang so betrübt, daß ich unwillkürlich lachen mußte. Ich stand auf und ging zu ihm.
»Das kann ich mir vorstellen. Komm her, ich will sehen, was sich machen läßt.« Er hatte sich das Hemd lose über die Schultern gelegt. Jetzt ließ ich meine Hand unter den Stoff gleiten und fuhr über seinen glatten, heißen Rücken. »Die Haut ist nicht verletzt«, stellte ich fest.
Ich streifte ihm das Hemd ab und hieß ihn niedersetzen. Dann benetzte ich seinen Rücken mit kaltem Wasser aus dem Fluß.
»Besser?« fragte ich.
»Ja.« Seine Rückenmuskeln entspannten sich, doch er zuckte leicht zusammen, als ich eine besonders empfindliche Stelle berührte.
Dann kümmerte ich mich um die Wunde unter seinem Ohr. »Du hättest ihn doch nicht wirklich erschossen, oder?«
»Wofür hältst du mich, Sassenach?« erwiderte er mit gespielter Empörung.
»Für eine schottische Memme. Oder bestenfalls für einen gewissenlosen Verbrecher. Woher weiß ich, wozu solch ein Kerl in der Lage ist? Und erst recht ein skrupelloser Lüstling wie du.«
Er lachte, so daß seine Schultern unter meinen Händen erbebten. »Dreh dich um. Wenn du weibliches Mitgefühl willst, mußt du schon stillsitzen.«
»Gut.« Wir schwiegen einen Augenblick. »Nein«, sagte er dann. »Ich hätte ihn nicht erschossen. Aber irgendwie mußte ich dafür sorgen, daß er das Gesicht wahren konnte, nachdem ich ihn in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht hatte. Er ist ein tapferer Junge,
und deshalb wollte ich ihm das Gefühl geben, er sei es wert, getötet zu werden.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde die Männer nie verstehen«, murmelte ich und strich Ringelblumensalbe auf die Wunde.
Er griff nach meinen Händen und zog mich nahe zu sich heran.
»Du brauchst mich nicht zu verstehen, Sassenach«, erwiderte er leise, »solange du mich liebst.« Er neigte den Kopf und küßte meine Hände.
»Und mir etwas zu essen bringst«, fügte er hinzu und ließ meine Hände los.
»Oh, weibliches Mitgefühl, Liebe und Essen?« fragte ich lachend. »Sonst noch was?«
In den Satteltaschen waren kalte Haferkuchen, Käse und auch etwas Schinken. Jetzt erst spürte ich, wie sehr mich die Ereignisse der letzten beiden Stunden angestrengt hatten. Auch ich hatte Hunger bekommen.
Als das Gemurmel der Männer verstummt war, bekam ich plötzlich das Gefühl, daß wir Tausende von Kilometern von jeder Menschenseele entfernt waren. Nur der Wind rauschte unermüdlich in den Bäumen.
Jamie lehnte sich gegen einen Stamm. Sein Gesicht wirkte blaß im Licht
Weitere Kostenlose Bücher