Die Geliehene Zeit
Burg und Palast, hinaufzugehen: sei es, um Einkäufe zu machen, sei es, um die Männer und ihre Familien, die in den engen Gassen untergebracht waren, mit Arzneien zu versorgen.
Die Hauptstraße von Edinburgh führte steil nach oben. Holyrood befand sich unten, am Fuße des Hügels, daneben die verfallene Abtei. Die mächtige Burg von Edinburgh ragte oben auf dem felsigen Hügel empor. Zwischen den beiden Schlössern befand sich die Royal Mile. Während ich atemlos und mit rotem Kopf neben Jamie herging, fragte ich mich, wie zum Teufel Colum MacKenzie den guten halben Kilometer Aufstieg zwischen dem Palast und der Kirche bewältigt hatte.
Colum saß im Kirchhof auf einer Steinbank, und die Nachmittagssonne wärmte ihm den Rücken. Sein Stock lag neben ihm, und die kurzen, verkrüppelten Beine baumelten einige Zentimeter über dem Boden. Mit seinen hochgezogenen Schultern und dem nachdenklich geneigten Kopf sah er aus der Ferne wie ein Zwerg aus - ein Bewohner dieses von Menschenhand geschaffenen steinernen Gartens. Die Grabsteine standen schief und waren mit Flechten überwachsen. An einer verwitterten Gruft entdeckte ich ein besonders schönes Exemplar, verzichtete aber drauf, es abzulösen.
Das weiche Gras dämpfte unsere Schritte, aber Colum hob den Kopf, als wir noch ein ganzes Stück weit von ihm entfernt waren. Seine fünf Sinne hatte er noch beisammen.
Als wir näher kamen, bewegte sich auch die schattenhafte Gestalt unter einer Linde; Angus Mhor war nicht weniger aufmerksam als sein Herr. Als er sich vergewissert hatte, daß wir es waren, nahm der Hüne seine stille Wacht wieder auf.
Colum nickte zum Gruß und forderte uns mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen. Aus nächster Nähe verlor sich - trotz seines verkrüppelten Körpers - der Eindruck des Zwergenhaften.
Jamie suchte mir einen Platz auf einem Stein, ehe er sich neben Colum setzte. Trotz meiner dicken Röcke war der Marmor überraschend kalt. Ich rutschte unbehaglich hin und her - und betrachtete mit gemischten Gefühlen den Totenschädel auf dem Grabstein über mir. Als ich die Inschrift sah, mußte ich lächeln:
Hier ruht Martin Elginbrod,
Erbarm dich meiner Seel’, lieber Gott,
Wie ich es täte, war’ ich Gott
und du wärst Martin Elginbrod.
Jamie sah mich stirnrunzelnd an, dann wandte er sich wieder an Colum. »Du wolltest mit uns sprechen, Onkel?«
»Ich möchte dich etwas fragen, Jamie Fraser«, erwiderte Colum ohne Umschweife. »Betrachtest du mich als deinen Verwandten?«
Jamie schwieg und sah seinem Onkel aufmerksam in die Augen. Dann verzog er seine Lippen zu einem schwachen Lächeln.
»Du hast die Augen meiner Mutter«, sagte er. »Sollte ich das abstreiten?«
Auf Colums Gesicht zeigte sich ein Ausdruck der Überraschung.
Seine Augen waren hell, von einem sanften Taubengrau, seine Wimpern waren dicht und tiefschwarz. So schön seine Augen waren, sie konnten kalt wie Stahl blitzen, und ich fragte mich nicht zum erstenmal, wie Jamies Mutter wohl gewesen war.
»Erinnerst du dich an deine Mutter? Du warst noch recht klein, als sie starb.«
Jamie verzog den Mund, doch er antwortete ruhig: »Alt genug. Außerdem befand sich in meinem Elternhaus ein Spiegel. Man sagt, ich sehe ihr ein bißchen ähnlich.«
Colum lachte kurz auf. »Mehr als nur ein bißchen.« Er warf einen forschenden Blick auf Jamie. »Aye, mein Junge; du bist Ellens Sohn, zweifellos. Schon allein das Haar und der Mund.« Colum verzog den eigenen Mund, als ob er sich nur widerstrebend erinnerte. »›So groß wie der Schnabel einer Nachtschwalbe<, neckte ich sie immer. >Du könntest Insekten fangen wie eine Kröte<, sagte ich zu ihr, >wenn du eine klebrige Zunge hättest.‹«
Jamie lachte überrascht.
»Das hat mir Willie einmal erzählt«, sagte er, dann schwieg er. Er sprach selten von seinem älteren Bruder, und Colum gegenüber hatte er Willie wohl noch nie erwähnt.
Falls Colum die Bemerkung gehört hatte, ließ er es sich nicht anmerken.
»Ich habe ihr geschrieben, damals«, sagte er und blickte geistesabwesend auf einen umgestürzten Grabstein. »Als dein Bruder und das Baby an Pocken gestorben sind. Mein erster Brief an sie, nachdem sie Leoch verlassen hatte.«
»Du meinst, nach ihrer Heirat.«
Colum nickte bedächtig, den Blick immer noch abgewandt.
»Aye. Sie war älter als ich, weißt du, zwei Jahre älter; der gleiche Abstand wie zwischen dir und deiner Schwester.« Er sah Jamie an.
»Ich habe deine Schwester nie kennengelernt. Habt ihr
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