Die Geliehene Zeit
hatte.
Doch diesmal war es anders. Nicht, daß mir noch viele Einzelheiten vor Augen standen, nein, was blieb, war der Eindruck, daß rauhe und drängende Hände nach mir griffen. Und eine Stimme, die so laut rief, daß sie mir in den Ohren gellte.
Ich legte die Hand auf mein wild pochendes Herz. Brianna war in ein leises Schnarchen verfallen, bevor sie wieder zu ihrem gleichmäϐigen Rhythmus zurückkehrte. Wie oft hatte ich diesen Atemzügen in der abgedunkelten Kinderstube gelauscht und gewußt, daß ich mir keine Sorgen zu machen brauchte!
Babys sind weich, und ihre zarte Haut fühlt sich an wie die samtigen Blätter einer Rose. Wenn man eine enge Beziehung zu ihnen hat, spürt man, daß diese Weichheit bis ins Innere reicht - unverkennbar an den runden Backen, die weich sind wie Sahnecreme, und an den Händchen, die sich bewegen, als hätten sie keine Knochen.
Doch von Anfang an schlummert in jedem Kind ein stählerner Wille, der zu sagen scheint: »Ich bin!«, und der den Kern der Persönlichkeit bildet.
Im zweiten Jahr verfestigt sich der Knochenbau, das Kind kann jetzt aufrecht stehen, und der große, feste Schädel schützt das weiche Innere wie ein Helm. Gleichzeitig wird auch das »Ich bin!« lauter. Beim Anblick dieser Kinder kann man diesen Willen, massiv wie Wurzelholz, beinahe durch das schimmernde Fleisch scheinen sehen.
Die Gesichtszüge bilden sich mit sechs heraus, das innere Wesen mit sieben. Die Einkapselung schreitet fort, bis sie im glänzenden Panzer der Pubertät ihren Höhepunkt erreicht. Dann ist alle Weichheit verborgen unter der Vielzahl neuer Persönlichkeiten, die Teenager zur Tarnung ausprobieren.
In den darauffolgenden Jahren kommt es vom Kern her zusehends zur Verhärtung, während sich die Facetten der Persönlichkeit herausbilden. Schließlich ist das »Ich bin!« festgelegt, klar und unverrückbar wie ein Insekt in Bernstein.
Ich hatte geglaubt, dieses Stadium und damit alles Weiche längst abgelegt und mich in den mittleren Jahren rostfreien Stahls häuslich eingerichtet zu haben. Doch jetzt gewann ich den Eindruck, als wäre durch Franks Tod etwas in mir gesprungen. Die Spalten öffneten sich, und ich konnte sie nicht länger durch Leugnen überdecken. Ich hatte meine Tochter, die stark war wie die Bergketten
des Hochlands, nach Schottland gebracht, weil ich hoffte, daß der innerste Kern ihres Wesens noch erreichbar und ihr äußerer Panzer gleichzeitig so stabil war, daß er die Belastung ertrug.
Doch plötzlich war mein eigener Kern nicht mehr in der Lage, mein einsames »Ich bin!« zu ertragen, ich fühlte mich meinem weichen Inneren ausgeliefert. Ich wußte nicht mehr, wer ich war und was aus ihr werden würde; ich wußte nur noch, was ich zu tun hatte.
Denn ich war zurückgekommen und hatte wieder in der kühlen Luft der Highlands geträumt. Und die Stimme des Traumes hallte in meinen Ohren und meinem Herzen wider.
»Du gehörst zu mir«, hatte sie gesagt. »Zu mir. Und ich lasse dich nicht gehen.«
5
Über den Tod hinaus
Still lag der Friedhof von St. Kilda im Sonnenlicht. Er befand sich auf einem Plateau, das eine Laune der Natur in einem Abhang hinterlassen hatte. Das Gelände war so uneben, daß manche Grabsteine in Senken verschwanden. Andere lehnten sich wie betrunken zur Seite oder waren ganz umgefallen.
»Ein bißchen unordentlich«, entschuldigte sich Roger. Sie waren an dem überdachten Friedhofseingang stehengeblieben und betrachteten die altertümlichen Grabsteine im Schatten der mächtigen Eiben. Über der entfernten Bucht ballten sich Wolken zusammen, doch die Bergkuppe lag im Sonnenlicht, und es war windstill und warm.
»Mein Vater hat ein- oder zweimal im Jahr ein paar Männer aus der Gemeinde zusammengetrommelt und ist mit ihnen hergefahren, um hier Ordnung zu schaffen. Aber in letzter Zeit ist der Ort recht verwahrlost.« Versuchsweise bewegte Roger das Tor, dessen Scharniere gebrochen waren und dessen Schnappschloß nur noch an einem Nagel baumelte.
»Hübsch und friedlich ist es hier.« Brianna schob sich vorsichtig an dem rostigen Tor vorbei. »Und wirklich alt, nicht wahr?«
»Aye, das stimmt. Dad war der Meinung, diese Kirche sei auf der Stätte eines frühzeitlichen Heiligtums oder irgendeines Tempels errichtet worden; deswegen liegt sie auch so abseits. Einer seiner Freunde aus Oxford hat immer wieder angedroht, er würde hier mit Ausgrabungen beginnen, um zu sehen, was darunter verborgen ist. Aber natürlich hat er dafür keine
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