Die Geliehene Zeit
sich dort eben noch gezeigt hatte, war plötzlich wie weggewischt. Mechanisch lächelnd nickte sie.
»Ja. Ja, es ist alles in Ordnung.« Sie öffnete die Hand, und die schlaffe Pflanze fiel zu Boden.
»Ich hatte mir schon gedacht, daß du staunen wirst.« Brianna warf ihrer Mutter einen besorgten Blick zu. »Ist das nicht einer von Daddys Vorfahren? Der Soldat, der in Culloden gestorben ist?«
»Ja«, erwiderte Claire, den Blick auf den Grabstein gerichtet. »Und er ist wirklich tot, nicht wahr?«
Roger und Brianna sahen sich an. Roger, der ein schlechtes Gewissen hatte, faßte Claire an den Schultern.
»Es ist ziemlich heiß heute«, sagte er, um Beiläufigkeit bemüht. »Vielleicht sollten wir in die Kirche gehen. Dort ist es kühler. Außerdem können wir uns die interessanten Steinmetzarbeiten am Taufbecken ansehen.«
Claire lächelte ihn an. Ein ungezwungenes Lächeln, ein wenig müde vielleicht, aber ohne jede Spur einer geistigen Verwirrung.
»Geht ihr schon vor«, sagte sie und nickte Brianna zu. »Ich brauche frische Luft und bleibe noch ein wenig draußen.«
»Ich kann dich doch nicht allein lassen!« Brianna schien ihrer Mutter Gesellschaft leisten zu wollen, doch Claire hatte mittlerweile nicht nur ihre Fassung wiedergewonnen, sondern auch ihre Autorität.
»Unsinn«, erwiderte sie resolut. »Mir geht es gut. Ich setze mich dort in den Schatten der Bäume. Seht ihr euch die Kirche an. Ich möchte ein wenig allein sein«, fügte sie entschlossen hinzu, als sie sah, daß Roger widersprechen wollte.
Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und ging zu der Reihe dunkler Eiben, die den Friedhof im Westen säumten. Brianna sah ihr zweifelnd nach, doch Roger nahm sie am Ellenbogen.
»Ist vielleicht ganz gut so«, murmelte er. »Schließlich ist Ihre Mutter Ärztin. Sie wird schon wissen, was sie sich zumuten kann.«
»Na ja... das hoffe ich.« Nach einem letzten besorgten Blick auf ihre Mutter ließ sich Brianna fortführen.
Sie betraten die Kirche, einen leeren Raum mit Holzdielen. Das alte Taufbecken stand nur deshalb noch an seinem Platz, weil es sich nicht hatte ausbauen lassen. Es war aus dem Steinsims gehauen, das an einer Seite des Innenraums entlanglief. Oberhalb des Taufbekkens stand eine Skulptur der heiligen Kilda, den leeren Blick fromm gen Himmel gewandt.
»Dies war wohl früher eine heidnische Gottheit«, erklärte Roger, während er die Umrisse der Statue mit dem Finger nachfuhr. »Hier
kann man noch genau sehen, wo nachträglich der Nonnenschleier hinzugefügt wurde - von den Augen ganz zu schweigen.«
»Wie pochierte Eier«, stimmte Brianna zu und imitierte den nach oben gewandten Blick. »Und was sind das für Meißelarbeiten? Die sehen aus wie die Ornamente auf den piktischen Steinen von Clava.«
Langsam schlenderten sie an den Wänden der Kirche entlang und lasen die Inschriften auf den Holztafeln, die von längst verblichenen Gemeindemitgliedern zum Angedenken an ihre noch früher verstorbenen Vorfahren gestiftet worden waren. Sie sprachen leise, weil sie insgeheim auf ein Geräusch vom Friedhof lauschten, doch als alles ruhig blieb, entspannten sie sich allmählich.
Roger folgte Brianna zum vorderen Teil des Kirchenschiffs. Dabei fiel sein Blick immer wieder auf die Löckchen, die aus ihrem Zopf gerutscht waren und sich im Nacken kräuselten.
An der Vorderfront fanden sie anstelle des früheren Altarsteins lediglich ein Loch, über das man blanke Holzplanken gelegt hatte. Roger lief ein Schauer über den Rücken, als er so nahe neben Brianna stand.
Seine Gefühle waren so übermächtig, daß er den Eindruck hatte, sie würden im leeren Raum widerhallen, und er hoffte nur, Brianna könnte sie nicht hören. Sie kannten sich jetzt knapp eine Woche und hatten bisher kaum die Gelegenheit zu einem ungestörten Gespräch gehabt. Gewiß würde sie ihn abweisen oder, schlimmer noch, auslachen, wenn sie wüßte, was er empfand.
Aber als er ihr einen verstohlenen Blick zuwarf, stellte er fest, daß sie ruhig und ernst geblieben war. Auch sie sah ihn an, mit einem Ausdruck in ihren tiefblauen Augen, der ihn alles vergessen ließ. Er wandte sich ihr zu und streckte die Arme nach ihr aus.
Ihr Kuß war kurz und sanft - und doch vermittelte er ihnen das Gefühl, als hätten sie sich in diesem Augenblick das Eheversprechen gegeben.
Roger ließ die Hände sinken, doch ihre Wärme haftete auf seinem Körper und seinen Lippen, als hielte er sie noch immer im Arm. Einen Moment lang
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