Die Geliehene Zeit
das im Durcheinander auf dem Schreibtisch des Reverend kaum noch zu
finden war. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Fiona. Ich habe noch einen Anruf zu erledigen.«
Als Brianna in unser Zimmer zurückkehrte, lag ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Fragend blickte ich von meinem Buch auf.
»Ein Anruf von Roger?« riet ich.
»Woher weißt du das?« Sie sah mich überrascht an, doch dann grinste sie. »Ach so, weil er der einzige Mann ist, den ich in Inverness kenne.«
»Daß deine Freunde aus Boston telefonieren, hätte ich auch nicht vermutet«, entgegnete ich und sah auf die Uhr. »Jedenfalls nicht um diese Tageszeit. Da sind sie wohl alle beim Football-Training.«
Brianna, die nicht weiter darauf einging, steckte die Füße unter die Decke. »Roger hat uns eingeladen, morgen mit ihm in einen Ort namens St. Kilda zu fahren. Er sagt, es gäbe dort eine sehenswerte Kirche.«
»Hab’ schon davon gehört«, erwiderte ich unter Gähnen. »Gut, warum nicht? Ich nehme meine Pflanzenpresse mit; vielleicht finde ich ja ein paar Kronwicken - die habe ich nämlich Dr. Abernathy für seine Untersuchungen versprochen. Aber wenn wir den ganzen Tag nur durch die Gegend laufen und alte Grabinschriften lesen, dann gehe ich jetzt schlafen. Es ist anstrengend, in der Vergangenheit herumzustochern.«
Ein Zucken lief über Briannas Gesicht, als wollte sie etwas sagen. Doch sie nickte lediglich und schaltete mit einem rätselhaften Lächeln das Licht aus.
Ich starrte in die Dunkelheit. Bald lag Brianna ruhig da, und ich hörte nur noch ihre regelmäßigen Atemzüge. Sie schlief tief und fest. St. Kilda also. Ich war zwar noch nie dort gewesen, doch der Name war mir vertraut. Eine alte Kirche, wie Brianna gesagt hatte, schon lange aufgegeben und fernab jeder Touristenroute - nur ein Forscher verirrte sich gelegentlich dorthin. Vielleicht war dies die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte?
Dort wäre ich mit Brianna und Roger allein, bräuchte also keine Störung zu befürchten. Und vielleicht wäre der Ort auch gar nicht so schlecht - unter all den längst verstorbenen Gemeindemitgliedern von St. Kilda. Roger hatte noch nicht feststellen können, was aus den Männern von Lallybroch geworden war, doch es schien, als hätten sie das Schlachtfeld von Culloden lebend verlassen. Und
mehr brauchte ich nicht zu wissen, um Brianna den Ausgang der Geschichte zu erzählen.
Beim Gedanken an das bevorstehende Gespräch wurde mein Mund trocken. Wie sollte ich die passenden Worte finden? Ich versuchte, mir auszumalen, wie ich vorgehen, was ich sagen und wie sie reagieren würden, doch meine Phantasie reichte nicht aus. Wieder einmal bedauerte ich das Versprechen, das ich Frank gegeben und das mich davon abgehalten hatte, dem Reverend zu schreiben. Denn in diesem Fall wüßte wenigstens schon Roger Bescheid. Aber vielleicht auch nicht, denn es hätte ja sein können, daß der Reverend mir keinen Glauben schenkte.
Unruhig drehte ich mich von einer Seite auf die andere. Ich wartete auf eine Inspiration, doch meine Erschöpfung war stärker. Schließlich gab ich es auf, drehte mich auf den Rücken und schloß die Augen. Als hätte ich durch meine Grübeleien den Geist des Reverend heraufbeschworen, kam mir ein Satz aus der Bibel in den Sinn. Es ist genug , schien mir die Stimme des Reverend zuzuraunen, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage hat . Und damit schlief ich ein.
Als ich im Dämmerlicht des Morgens erwachte, hatte ich die Hände um die Bettdecke geklammert, und das Herz schlug mir mit der Kraft eines Dampfhammers bis zum Halse. »Herr im Himmel!« stöhnte ich.
Das seidene Nachthemd klebte schweißnaß an meiner Haut; als ich an mir hinunterblickte, sah ich, daß sich meine Brustwarzen aufgerichtet hatten. Wellen der Erregung durchzuckten meinen Körper wie die Nachwehen eines Erdbebens. Hoffentlich hatte ich nicht geschrien. Doch Briannas gleichmäßigem Atem nach zu urteilen, schien diese Sorge unbegründet.
Ich ließ mich aufs Kissen zurücksinken. Meine Hände zitterten kraftlos, und erneut brach mir der Schweiß aus.
»Jesus H. Roosevelt Christ!« murmelte ich und bemühte mich, tief durchzuatmen, damit mein Herzschlag allmählich wieder ruhig und gleichmäßig wurde.
Sonst umschmeichelten mich diese Art von Träumen wie sanfte Seide, und wenn ich durch sie erwachte, schlief ich gewöhnlich rasch wieder ein. Von dem Traum blieb nichts als ein sanftes Nachglühen, das ich am Morgen schon wieder vergessen
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