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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Entscheidung. Wahrscheinlich ist es seine Pflicht, aber dennoch ist es falsch. Er versucht, den General abzulösen. Er wirft sich auf mannhafte und doch asexuelle und unpersönliche Weise in Pose, strahlt gebührenden Ernst und Bedauern aus und informiert seinen befehlshabenden Offizier aufgrund irgendeines Abschnitts in irgendeinem Regelwerk, dass er, Riley Tench, ihn, George Copsen, für unfähig hält, das Kommando weiterhin zu führen, da er unter psychischem Stress stehe und zusammengebrochen sei. Er, Riley Tench, werde zum Wohle der Einheit und dank der ihm eigens für diesen Zweck übertragenen Befugnisse hiermit diese Funktion übernehmen, nachdem er eingehend über die Bedeutung dieses Eingreifens nachgedacht habe und durchaus auch eingedenk der Tatsache, dass es von den entsprechenden Stellen später als Meuterei eingestuft werden könne. Wird der General George Copsen also akzeptieren, dass er entsprechend den einschlägigen Protokollen abgelöst ist?
    Es gibt ein langes Schweigen, dann schießt George Copsen ihn in den Kopf. Riley Tench verteilt sich über drei Monitore und Richard P. Purvis, der als eine Art neutraler Beobachter danebenstand und sich vermutlich dachte, dass er seinen Vorgesetzten nicht ausgerechnet in diesem Augenblick hätte ablösen sollen.
    Tatsächlich wird der General nicht abgelöst. Er ist stinksauer und gelegentlich katatonisch, aber er ist der Mann, der im Augenblick das Sagen hat, und so wird es bleiben, bis wir gegenteilige Befehle erhalten, Amen.
     
    Wir bekommen eine ungefähr vierundzwanzig Stunden lange Verschnaufpause, in der nicht viel passiert. Wir haben Zeit, Riley Tench von unseren Uniformen zu waschen, und danach haben wir noch mehr Zeit, die wir nicht mit sinnvollen Tätigkeiten füllen können. George Copsen läuft herum und erklärt den Rekruten, die Situation werde »bald geklärt« sein. Das soll sie vermutlich beruhigen, bewirkt aber das genaue Gegenteil und lässt allen die Hosen schlottern. Der General ist unrasiert, sein Gesicht ist aufgedunsen und glänzt vor altem Schweiß. Dieses Gesicht passt zu jemandem, der ein rotes Flanellhemd trägt und eine halb leere Flasche Fusel in der Hand hält. Ab und zu sackt er vor seinem Zelt auf einem Stuhl in sich zusammen und starrt mit gläsernen Augen ins Leere.
    Ich sitze auf dem Bett und betrachte meine Briefe, weil sie mich an die Heimat erinnern. Das hat mir bisher immer geholfen. Dann stoße ich auf den Zombie-Brief der Evangelistin, diesen Rahmen aus Papier, mit einem Loch, dort wo der Inhalt stehen sollte, und muss daran denken, dass mein Zuhause vielleicht nicht mehr existiert. Ich starre durch das Loch.
    Gonzo kommt herein, auch er ist ziemlich neben der Spur, und wir trinken etwas illegalen, aber hervorragenden Spezialeinheitsschnaps, bis Leah mein Zelt betritt, sich zu mir setzt und den Kopf an meine Brust schmiegt. Ich fühle mich stark wie ein Alphatier. Gonzo wirkt dagegen etwas nervös und verwirrt, und wir rechnen damit, dass jeden Augenblick ihr Piepser anschlägt. Aber im Augenblick bringt niemand Verletzte herein, weil die Leute entweder unverletzt oder einfach nicht mehr da sind. Ein paar wurden von Mauerwerk verschüttet, als das Gelände ausgestanzt wurde, und einige haben gebrochene Gliedmaßen und Schnittwunden, wie es eben passiert, wenn ein Haufen bewaffneter Männer unter beengten Verhältnissen zusammenhockt und die Leute Langeweile haben und sich streiten. Ein paar Tage lang lassen wir uns einfach treiben. Das ist natürlich der posttraumatische Stress, aber wir nennen es nicht so. Wir geben dem Zustand überhaupt keinen Namen und erkennen nicht einmal, dass wir uns in ihm befinden. Zäh verstreicht die Zeit, wir betrachten die Welt durch einen grauen Schleier, der auch unsere Stimmen dämpft. Daher ist jede ernsthafte Unterhaltung unmöglich. Wir sind in einer Art winterlichem Garten Eden – kein Ort der Unschuld, sondern ein Hort der Erschöpfung.
    Am siebten Tag nimmt Gonzo die Sache in die Hand. Er sammelt seine Truppe, schickt sie los, um gewisse notwendige Dinge zu erledigen, und bringt sein Projekt in Gang. Der Held von hundert geheimen Schlachten krempelt sich die Ärmel hoch und backt Pfannkuchen.
    Es ist schon komisch anzusehen, wie äußerst gefährliche Männer und Frauen den Dolch des Meuchelmörders ablegen und den Spachtel aus der Küchenschublade nehmen. Da erwacht sogar wieder das Gefühl, etwas Unpassendes zu sehen, das nach Monaten an diesem fremden Ort im

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