Die gelöschte Welt
aber wenigstens nicht auf der Stelle. Der Arzt der Einheit flickte ihn zusammen, aber während sie auf den Transport ins Hauptquartier warteten, stellte sich heraus, dass der Kieselstein mit dem Harz eines ungeheuer giftigen Baums überzogen war. Gefreiter Hengist begann zu schreien. Er schrie sieben Stunden lang, bis seine Lungen kollabierten, dann starb er. (Schäfer sind die Erzfeinde von Wölfen und Großkatzen. Wie Wölfe und Großkatzen und wie Schafe kümmern sie sich nicht um die Genfer Konvention oder die Ächtung der Biowaffen. Sie haben eine Aufgabe zu erledigen, und das tun sie auch. Schäfer müssen nicht Clausewitz lesen, um etwas über den totalen Krieg zu lernen, weil sie ohnehin schon ständig damit leben müssen.)
Ben Carsville war es jetzt egal, dass Addeh Katir ein so schönes Land war. Nichts in seinem Leben hatte ihn auf dies vorbereiten und ihn lehren können, dass es im Leben Situationen gab, in denen man nicht gewinnen konnte. Es kümmerte ihn nicht, dass die Einwohner von Addeh Katir ein munteres, stolzes Völkchen waren – Händler, Musiker und Historiker mit einer sanften überlieferten Religion und einem starken Gemeinschaftsgeist. Er wollte nur der sein, für den er sich immer gehalten hatte. Er wollte größer, stärker, lässiger und blendender sein als alle anderen. Es war ihm egal, wie gut er in seinem Job war, solange es nur gut aussah. Er lebte jetzt in der Kriegszone und zog seinen seidenen Morgenrock an, um am Zaun auf und ab zu marschieren und allen zu zeigen, dass er die Kontrolle hatte und sich einen Dreck um die anderen scherte. Er trieb seine Männer an, größere Anstrengungen auf ihr Äußeres zu verwenden und versuchte, ihnen zu erklären, dass es keine zufälligen Begegnungen gab, sondern nur Aktion und Reaktion. Eine Weile folgten sie ihm auch auf diesem eigenartigen Weg. Wäre sein Glück ansteckend gewesen, vielleicht wären sie ihm bis in die Hölle gefolgt. Aber Ben Carsvilles Glück war ein ausgesprochen wählerisches, launisches Ding. Seine überirdische Schönheit litt unter dem Dreck und der Angst, aber irgendwie funktionierte sie noch. Heckenschützen verschonten ihn und erledigten die anderen, die gerade neben ihm standen. Als Ben Carsville mit einer Zigarre auf den Wällen entlangging, zischten die Kugeln links und rechts an ihm vorbei und trafen jeden, mit dem er gerade sprach. Er konnte stehen, wo er wollte, und tun, was immer er wollte. Die Gegenseite war nicht an seinem Tod interessiert, sondern an seiner Demütigung. Seine Realität wich schließlich deutlich und auf gefährliche Weise von jener der anderen ab. Dann wurde er von Gonzo Lubitsch und seinen klugscheißenden Affen bewusstlos geschlagen, ausgeschaltet und entehrt.
An den Sturz in Ruth Kemners See kann er sich noch erinnern. Er weiß auch noch, wie sich das warme, süße Wasser anfühlte und wie seltsam es war, sich schließlich wieder aus dessen Umarmung zu lösen. Er wollte hinausklettern, aber dann drehte es ihm fast den Magen um, als ihn eine Hand hinab in den Schlamm zerrte. Ein Feind. Ein Ungeheuer. Er schlug zu und fand sein Ziel. Wieder schlug er zu, schüttelte sich das Wasser aus den Augen und sah den Gegner. Er kann sich erinnern, wie entsetzt er war, aber ehrlich gesagt vermag er den Grund nicht mehr zu nennen. Es schien wichtig, aber nicht relevant. Der Mann war jedenfalls ein Feind, der ihn umbringen wollte. Mehr musste er nicht wissen. Dies war der Augenblick, in dem er sein konnte, was er sein wollte. Er griff an – Instinkt war es, der reine, berauschende, schlichte Instinkt.
Ben Carsville kämpft um sein Leben und gibt alles, was er hat. Er strengt sich an, und wir sehen zu und fragen uns, ob wir die Nächsten sein werden. Der See gerät in Wallung, Blut und Blasen steigen hoch. Taumelnd richtet sich eine Gestalt auf. Ich sehe genauer hin und weiß nicht, ob ich dies erwartet habe und ob es gut oder schlecht ist.
Ben Carsville spuckt Blut und Rotz und marschiert das Ufer hinauf. Hinter ihm schwimmt etwas im Wasser, das wie ein Mann aussieht. Etwas, das tot und ein wenig traurig wirkt. Carsville dagegen strahlt, kinoreif und durchnässt, und ist irgendwie mehr Carsville denn je. Ein Blick zu Kemner, und er lacht. Er setzt sich ans Ufer und kichert, und dann kommen sie, legen ihm ein Handtuch über die Schultern und lassen ihn dort hocken. Offenbar ist er erfolgreich über die Planke gegangen.
Dann führen sie uns wieder nach drinnen und schließen uns in dem ehemaligen
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