Die gelöschte Welt
Bushaltestelle liegen lasse. Jeder, der sich dafür interessiert, kann ihn nehmen und öffnen. Jeder, der Gott sein will – so stellt es sich jedenfalls für mich dar –, kann den Daumen zwischen Umschlag und Hülle schieben und das Siegel lösen, um meinen einzigen, feierlichen Wunsch zu lesen: Lieber Gott, ich will nach Hause. Um in mein persönliches Pantheon zu gelangen, müssen sie nur das passende Wunder liefern. In der Zwischenzeit mache ich jedoch weiter, als würde der Brief von der Bank in die Gosse geweht werden, worauf ihn ein Regenschauer in die Abwasserkanäle spült. Dort wird er schmutzig und schimmelt. Die Tinte wird verblassen, das Papier zu Matsch zerfallen, und mein Gebet wird ungelesen vergehen, wie es meistens der Fall ist. Also lege ich die linke Hand mit dem Daumen nach außen an die Wand. Dann entferne ich mich so weit von ihr, wie ich nur kann. Und dann werfe ich mich fest dagegen und zerquetsche mit meinem Hüftknochen die kleinen Knochen in meiner Hand. Es tut weh, aber nichts bricht. Ich brauche ein paar Minuten und muss den Vorgang mehrmals wiederholen. Inzwischen starren mich alle entsetzt an. Endlich knackt etwas, und ich kann, nachdem ich mich ein paar Sekunden lang übergeben habe, die gebrochene Hand aus der Handschelle ziehen und mich vom Seil befreien.
Die Schmerzen sind über die Maßen entsetzlich. Das Wissen, dass ich mir es selbst angetan habe, verstärkt den Schmerz und lässt ihn zu etwas Besonderem werden. All das prallt aber an der Einsicht ab, dass ich nicht innehalten kann, sondern weitermachen muss, weil ich sonst noch mehr Schmerzen erleiden werde. Etwas zu spät fällt mir ein, dass es eine Reihe stiller Qigong-Übungen gibt, die man (natürlich vorher) benutzen kann, um den Schmerz auszublenden. Sie heißen die Neun Kleinen Schwestern, was Meister Wu ein wenig erotisch fand. Wenn er die Übungen erklärte, bekam sein Gesicht immer so einen sehnsüchtigen, lüsternen Ausdruck, was mich auf die Idee brachte, dass er in seiner Jugend mindestens drei von ihnen sehr gut gekannt hatte. Nicht, dass es hier echte Krankenpfleger gibt, wenn man von Leah und Egon absieht. Ich denke über die Möglichkeit nach, dass Leah und Egon nur Illusionen sind, die ich vor ein paar Augenblicken selbst erschaffen habe, damit sie mir bei meinen Schmerzen helfen. Dann wird mir bewusst, dass ich ungefähr anderthalb Minuten da herumstehe und meine Hand festhalte, während alle anderen inbrünstig hoffen, ich würde nicht gleich schreien oder ohnmächtig werden. Eine kleine Weile verliere ich mich in einem Dämmerzustand, aber dann wird es Zeit, mich herauszureißen und mich an die Arbeit zu machen.
Also reiße ich mich heraus und betrachte Jim Hepsobah, der eine Art gelassene Kraft ausstrahlt, die ich jetzt gut brauchen könnte. Ich konzentriere mich auf Jims Stärke, auf eine zerklüftete, gebirgige Zuflucht des Herzens, auf die Gewissheit und den entschiedenen Wunsch, es richtig zu machen. Die Schleier lichten sich, oder wenigstens kann ich mich wieder bewegen.
Es gibt nur einen Ausgang. Es ist keine richtige Tür, denn der Zugang soll das Lager nur vor Eindringlingen schützen. Er ist nicht dafür gebaut, Gefangene drinnen zu halten. (Die Schmerzen in meiner Hand sind einigermaßen entsetzlich. Ich denke weiter an Jim Hepsobah und sehe den Berg vor mir, den er für mich symbolisiert. Dort gibt es Bäche. Kalte, klare Bäche. Hepsobahisch? Hepsobalitisch? Oder wird das Wort in diesem Fall verkürzt? Hepsobisch? Mit diesen wichtigen Gedanken bin ich gut beschäftigt und vergesse vorübergehend die Schmerzen. Na schön.) Hätte ich eine Haarnadel, und verstünde ich etwas von Schlössern, dann könnte ich wahrscheinlich ausbrechen. Womöglich könnte ich sogar die Tür mit einem Tritt öffnen, auch wenn uns der Lärm mit Sicherheit unwillkommene Gesellschaft bescherte. Während ich noch die Möglichkeiten bedenke, bemerke ich, dass Leah mit zunehmender Dringlichkeit und schließlich sogar mit einer gewissen Gereiztheit meine Aufmerksamkeit zu erregen sucht. Ich gehe zu ihr hinüber.
»Dreh den Knauf herum«, sagt sie. Ich öffne den Mund und will ihr sagen, dass die anderen doch wohl kaum vergessen haben, die Tür zu verschließen. Um mich zu vergewissern, kehre ich dennoch zur Tür zurück und drehe den Knauf herum. Die Tür öffnet sich.
Ein Silberstreif am Horizont. Zu meiner hepsobahischen Kraft füge ich leahischen (schon wieder ein Wort, das auf H endet, eine Katastrophe!)
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