Die gelöschte Welt
Scharfsinn hinzu. Scharfsinn. Au, au, au! Ich sehe mich zu Leah um, die heftig grinst – aufmunternd zugleich und flehend –, und verliebe mich noch ein wenig mehr in sie. Dann trete ich in den nächsten Raum, das Hinterzimmer der Flughafenbar. Gleich um die Ecke mixt sich jemand einen Cocktail. Wenn es ein Martini ist, dann richtet er ihn hin, der Barbar. (Was eigentlich nur »der Bärtige« bedeutet und ursprünglich gar nicht herabsetzend gemeint war. Die Römer wussten genau, dass die Leute mit Bärten so scharf sein konnten wie ein Gladius; sie wollten eben nur zwischen glatt rasiert und rauhaarig unterscheiden … Rasiert und scharf? Klingt das nicht ein wenig pornografisch? Ja, und ob. Hm.)
Ich verkneife mir meine Gedanken und richte Leahs Klugheit auf den Cocktailmischer an der Bar. Den Schritten nach ist es ein Mann. Schon bevor ich ihn erblicke, weiß ich, dass es Carsville ist. Der neue, gefährliche Carsville, eleganter denn je. Ich spähe um den Türrahmen herum. Er steht mit dem Rücken zu mir und misshandelt einen billigen Cocktailmixer. Er kommt sich wohl wie James Bond vor und macht sich den wässrigsten Martini, den der Flughafen je gesehen hat. Sein Gesicht ist unverletzt, und er bewegt sich überhaupt nicht wie jemand, der gerade um sein Leben gekämpft hat. Keine Krämpfe, kein Zögern, kein Keuchen. Als er fertig ist, schenkt er sich ein und verschüttet eine Menge. Ich ziehe mich eilig hinter die Wand zurück, als er auf die Theke hüpft, wobei er sich kurz in meine Richtung umwendet und sich auf dem Hintern um sich selbst zur anderen Seite dreht, als befände er sich auf einer Party in einem teuren Penthouse. Ich bin nicht in Gefahr, entdeckt zu werden, denn seine ganze Aufmerksamkeit gilt seinem Publikum: He da, ich bin Ben. Hallo, meine Damen … Es gibt keine Damen. Die existieren nur in seinem Kopf. (Zweifellos scharf rasiert. Au, au, au. Hepsobah. Auf dem Berg wachsen auch Wälder, und es gibt Bären. Große, kräftige Tiere. Sie schlafen. Warten. Ja.) Er schlendert zu Kemner und den anderen hinüber, die am anderen Ende des Raumes herumstehen. Auf halbem Wege halten zwei von Kemners Männern Wache. Auch hier drinnen sind sie immer noch nervös. Ja, irgendetwas hat ihnen einen Schrecken eingejagt. Ich ducke mich wieder und zähle die eiskalten verwässerten Martinitropfen, die auf den Boden fallen.
Dann wird mir klar, dass irgendjemand meinen Gebetsbrief geöffnet und zumindest ein paar Schritte unternommen hat, um mich herauszuholen. Gelobt sei Ben Carsville, dieses idiotische Ungeheuer, denn er ist der Engel des Herrn, auch wenn er nichts davon weiß. Direkt vor meiner Nase – neben der Kasse – liegt ein Hammer. Ich überlege kurz, ob er dazu dient, aufsässige Kunden zur Räson zur bringen, oder um Fehlbuchungen der Kasse zu korrigieren. Aber das ist mir eigentlich nicht so wichtig. Wichtig ist, dass ich ihn holen und mit ihm verschwinden muss, ohne erwischt zu werden, denn er wird ein nützliches Lernmittel in meinem neuen Spezialgebiet als Fluchthelfer werden. Auf Knien und der rechten Hand krieche ich unter der Bar bis zum Hammer. Beim Rutschen erzeuge ich Geräusche, als würden Feuerglocken anschlagen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie es nicht hören. Außerdem jagt jede Bewegung einen hellblauen Blitz durch mein linkes Auge, das aus irgendeinem Grund die Schmerzen meiner Hand auslebt. Ich greife nach dem Hammer, und dann mache ich den Fehler, aus Neugierde den Kühlschrank zu öffnen. Neun Augenpaare starren mich an. Der Kühlschrank stinkt. Kemner hält dort ihre Köpfe frisch, damit sie für den Thron immer genügend in Reserve hat. Bis dahin ruhen sie auf Papptellern. Es sind wohl überwiegend UN-Soldaten, vielleicht ist auch ein ziviler Arzt darunter. Es gelingt mir, mich nicht zu übergeben und die Kühlschranktür leise zu schließen. Dann starre ich mich auf der verspiegelten Tür des Kühlschranks selbst an. Ich sehe beschissen aus, was aber auch nicht anders zu erwarten war. Genau wie die Köpfe der armen Kerle da drin. Der Kühlschrank hat eine kleine Beule, die mein Gesicht zu komischen Formen verzerrt, wenn ich mich bewege. Außerdem bin ich nicht allein, wie ich voller Schrecken feststelle.
Das Gesicht über mir ist eigentlich gar kein Gesicht, sondern eine Gasmaske, die durch ein Loch in der Decke hereinschaut. Die bösen Buben am anderen Ende des Raumes können den Eindringling nicht sehen, weil vor der Bar ein Baldachin aus Plastik mit der Aufschrift
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