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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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gesicherten Schnapslager der Flughafenbar ein. Wir tragen noch Handschellen, also müssen sie nur ein dickes Drahtseil durch unsere Handschellen ziehen und an den Stäben in der Wand befestigen, und wir sind ziemlich sicher verwahrt. Sie knallen die Tür wie Kinderstundenschurken zu und entfernen sich demonstrativ kichernd.
    Gonzo sieht mich an, ich erwidere seinen Blick. Wir standen ganz vorn und konnten alles gut beobachten, deshalb hat vermutlich niemand sonst bemerkt, was uns aufgefallen ist. Wenn es ihnen nicht selbst aufgefallen ist, werden sie uns auch nicht glauben. Ich weiß nicht einmal, ob ich es selbst glaube. Aber einen Augenblick lang, in dem Moment nämlich, als Ben Carsville seinem Gegner Auge in Auge gegenüberstand, bevor er ihn niederschlug und ihm das komische Zeug aus dem See in den Mund stopfte, da schien es so, als wäre der Gegner ebenfalls Ben Carsville.
     
    Von einem unversöhnlichen Feind an die Wand gekettet. Situation: schlecht, sogar schrecklich. Die Angehörigen der Spezialeinheiten werden natürlich für schreckliche Situationen ausgebildet, und ganz besonders dafür, dass sie gefangen werden und furchtbare Folterungen über sich ergehen lassen müssen. Sie sind dazu ausgebildet, immer einen Ausweg zu finden, sie sind allzeit bereit und zäh. Krankenschwestern bekommen keine vergleichbare Ausbildung, aber Leah hält sich anscheinend ganz gut. Egon dagegen nicht, er lässt sich hängen und weint, und niemand kann ihn aufrichten und ihm sagen, dass alles wieder gut wird. Mal davon abgesehen, dass es sowieso eine Lüge wäre. Was auch immer geschieht, wenn man in den See geworfen wird, es kann offensichtlich nichts Schönes sein. Ben Carsville ist nicht hier drinnen bei uns. Er ist draußen bei Kemner und steht inzwischen in ihrer fröhlichen Monsterkompanie in Lohn und Brot. Vielleicht ist der See nur eine riesige Grube voller Schmiere, die Psychosen auslöst und einem das Gehirn wäscht. Vielleicht ist es eine Konsequenz der Löschungsbombe und von Professor Dereks genialer, bescheuerter Physik. Was es auch sein mag, Kemner will uns nacheinander hineinstecken, und sie wird es genießen. Sie ist eine verrückte Frau mit einer Sammlung von Menschenköpfen auf ihren Büromöbeln. Das allein ist schon Grund genug zu fliehen.
    Das Problem ist, dass die Spezialeinheiten zwar auf solche Notlagen vorbereitet sind – sie wissen, wie man sich nicht unterkriegen lässt, damit man jederzeit bereit ist, die Gelegenheit beim Schopfe zu ergreifen, wenn sie sich bietet. Und sie wissen, wie man eine zusätzliche halbe Stunde der übelsten Folterungen übersteht. Dennoch können sie nicht durch Wände gehen oder massiven Stahl mit reiner Willenskraft verbiegen. Sie haben auch nicht unbedingt die Fähigkeit, das Offensichtliche zu erkennen, weil sie immer in Begriffen von Sieg oder Niederlage denken, wobei der Sieg den Gegner frustriert, die Niederlage aber bedeutet, sich den Schmerzen und Verletzungen einfach zu ergeben. Sie könnten mühelos die Hände nach vorn bringen – sie steigen einfach durch die Handschellen, weil sie sehr gelenkig sind. Aber was dann?
    Deshalb gehört dieser Moment mir. Es gibt einen sehr unschönen, aber leichten Weg, aus diesem Gefängnis zu entkommen. Gonzo weiß zwar, dass er existiert, weil er den gleichen Kurs über Selbstbefreiung besucht hat wie ich, aber er kommt nicht auf die Idee, sein Wissen auch anzuwenden. Gonzo ist zwar der geborene Sieger, doch diese Art Sieg könnte man einen Pyrrhussieg nennen. Es ist nicht möglich, Leah um so etwas zu bitten, und auch für Jim Hepsobah oder einen der anderen käme das nicht infrage, weil sie so viel Zeit damit verbracht haben, ihre Muskeln aufzubauen und ihre Hände zu tödlichen Waffen auszubilden. Vielleicht wäre Sally Culpepper dazu in der Lage, aber damit wäre sie nutzlos, falls wir bald mal einen Scharfschützen brauchen. Daher ist es genau der richtige Plan für mich. Im Grunde ist es ganz einfach, aber es macht keinen Spaß. Also hole ich einige Male tief Luft, bevor ich beginne, und dann schicke ich zum ersten Mal im Leben eine Art Gebet nach oben, auch wenn es mir etwas unbeholfen vorkommt.
    Die meisten Leute haben beim Beten eine klare Vorstellung, wohin sie die Worte richten müssen. Sie denken an Gott den Bärtigen, Gott den wallend Gewandeten oder Gott den Abwesenden Vater, der irgendwo auf einer Wolke sitzt und seine Post durchsieht. Mein Gebet kommt in einen leeren Umschlag, den ich einfach an einer

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