Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
Vom Netzwerk:
nicht, nur eben sehr anstrengend. So ungefähr wie der Unterschied, wenn man einen leeren oder einen vollen Koffer hebt. Diese Invasion ist sogar noch grauenhafter als die letzte.
    Nun höre ich auch zum ersten Mal das Wort »Reifikation« in einem Zusammenhang mit der Großen Löschung, weil Zaher Bey wissen will, was es zu bedeuten hat. Müsste ich nicht peinlich darauf achten, ihm ja nicht zu offenbaren, dass ich an dem, was gerade passiert ist, einen recht großen Anteil habe, dann könnte ich es ihm erklären. Man soll nur nicht sagen, die Soziologie sei eine nutzlose Disziplin. Aber Nq'ula hat es in der Theorie anscheinend ganz gut begriffen.
    »Es ist die Verwandlung einer Idee in ein Ding, Prinz der Menschen«, erwidert Nq'ula sehr förmlich, weil dies nicht nur ein Kriegsrat ist, sondern auch eine Darbietung. Zaher Bey verwandelt die Menge der Flüchtlinge in etwas ganz Neues: die Überlebenden von Shangri-La. Um das zu erreichen, muss er ihnen aber einen Bezugspunkt geben. Gonzo lieferte Pfannkuchen und Normalität im Austausch für Bündnistreue. Die Münze des Bey sind Antworten.
    Nq'ula hält einen Vortrag und formuliert Theorien. Und der Bey erweckt den Anschein, als verstünde er kein Wort, woraufhin wir anderen ihn ins Herz schließen. Falls jemand noch etwas zu Nq'ulas Erklärungen hinzufügen möchte, aber gern. Denn wir stecken alle zusammen in dieser Klemme, und zwei Köpfe oder auch zweihundert sind besser als einer. Nq'ula blickt in die Runde und bemerkt, dass alle genau aufpassen. Sein Freund gibt ihm mit seiner Miene zu verstehen, dass seine Erklärung bisher noch nicht zufriedenstellend war. Also fährt Nq'ula fort und nennt weitere Einzelheiten.
    »Wenn du so freundlich bist, dir einen kräftigen, flegelhaften Mann in der prähistorischen Wildnis vorzustellen?«
    Zaher Bey zieht eine Grimasse und macht sich ans Werk. Es gibt eine Pause. Nq'ula wippt ungeduldig auf den Füßen. Ich sehe mich um. Wir alle sind erschöpft, aber alle konzentrieren sich auf das Bild unseres fernen Vorfahren.
    »Bist du bereit?«
    »Ja.«
    »Nun gut. Was fällt dir als Erstes an ihm auf?«
    »Wie kommt es nur, Nq'ula, dass mir deine Erklärungen immer das Gefühl geben, ich sei ein achtjähriger Junge?«
    »Das ist gut möglich, Prinz der Menschen, denn dies liegt in der Natur des Lernens.«
    »Ich denke nicht.«
    »Leider ist dies aber viel zu oft der Fall.« Das ruft ein leises Kichern hervor: der Bey als bescheidenes Licht. »Wir wollen jedoch den großen braunen Umschlag mit den Bauernweisheiten ungeöffnet lassen und zu unserem Cro-Magnon-Menschen zurückkehren. Nun?«
    »Er scheint nackt zu sein.«
    »In der Tat, Prinz der Menschen. In der Tat. Und diese Nacktheit versucht er bis auf den heutigen Tag zu beheben.«
    »Bist du sicher? Mir kommt es eher so vor, als sei er ganz zufrieden damit, gierig und ungewaschen herumzustreifen und sich animalischen Gelüsten hinzugeben. Ja, ich bin sogar sicher. Schau doch dort, wo sich seine Frauen versammeln. Sind sie nicht ebenso nackt?«
    Nq'ula schnauft vernehmlich und erweckt den Eindruck, er sei kein Mann, der über Höhergestellte seufzt, auch wenn er es mitunter gern täte.
    »Seine Weiber hatte ich noch nicht erwähnt, Prinz der Menschen, damit dich ihre Nacktheit nicht erschreckt.«
    »Oh, aber das tut sie! Nur sind sie wenigstens hübscher als dieser Baumstamm von Penis, der ungehindert unter seinem Bauch pendelt.«
    Daraufhin setzt ein lautes Gelächter ein, und am lautesten lacht die Dorfälteste, die empört und inmitten flatternder, altmodischer Unterröcke in die Limousine des Beys gestopft wurde. Jetzt beäugt sie ihren Helden mit sehnsüchtigem Lächeln und voll von hoffnungsloser Bewunderung. Nq'ula wartet, bis sich das Kichern legt, und fährt fort.
    »Bisher ist es mir noch gar nicht aufgefallen, Prinz der Menschen, aber jetzt erkenne ich das Objekt, über das du sprichst, und ich muss zugeben, dass es alles andere als eine Augenweide ist. Aber wenn wir nun zu den Frauen zurückkehren – fällt dir nicht auf, dass sie frieren?«
    »Die Schlanken frieren. Die mit den weiblichen Formen sind, wie ich bemerkte, recht gut vor der abendlichen Kälte geschützt.«
    »In der Tat. Aber selbst sie beginnen ein wenig zu zittern, wenn die Nacht beginnt und folglich auch die Umgebungstemperatur fällt. Aus bitterer Erfahrung wissen sie, dass sie in den frühen Morgenstunden …«
    »Allerdings haben sie keine Zeitmesser.«
    »Ganz recht, Prinz der Menschen, denn

Weitere Kostenlose Bücher