Die gelöschte Welt

die Luft gejagt hat, wobei es allerdings – wie sich herausstellte – viel Hilfe von seinen Freunden bekam.
    Wenn ich mich umsehe, kann ich mir eigentlich ganz leicht vorstellen, was passiert ist, auch wenn es schwer zu verdauen sein wird. Uns fällt die Einsicht natürlich leichter, denn wir sitzen mitten darin, wir könnten jederzeit getötet werden, wir sehen Gespenster und begraben die toten Kinder von Mythen.
    Die Welt geht aus dem Leim. Die Löschungsbombe entwickelt unglaubliche Kräfte, sie ist eine Art Staubsauger, der das organisierende Prinzip, die Informationen aus der Materie und der Energie entfernt. Professor Derek nahm an, Materie oder Energie würden einfach verschwinden, sobald man ihnen die Informationen nimmt. Er hat sich offenbar geirrt. Wenn der Materie die Information genommen wird, verwandelt sie sich in Zeug, das man auch Disneystaub oder Schatten nennen könnte. Sie bleibt aber da und sucht verzweifelt nach neuen Informationen. Sie wird hungrig.
    Normalerweise würden diese Informationen aus der Noosphäre kommen (nicht aus dem Kaufhaus des Höhlenmenschen John, sondern aus der Informationsebene des Universums, aus dem riesigen Reich, in dem das Kaufhaus nur einen Teil bildet). Aber im Laufe des Krieges haben wir weggewischt, was eigentlich dort sein müsste.
    Wie uns inzwischen klar ist, besitzen auch die Menschen ein Bauteil, das ihre Informationen enthält. Rings um uns wird nun der menschliche Anteil der Noosphäre – unsere Gedanken, Hoffnungen und Ängste – reifiziert. Das Durcheinander der menschlichen Gedanken bekommt eine physische Gestalt und ersetzt das, was entfernt ist, durch Träume und Albträume. Wie der Albtraum des Krieges, der über General Copsens Stützpunkt hereingebrochen ist und dann hierherkam.
    Wie das Mädchen, das wünschte, ein Pferd zu sein, und im Schlaf von einem Sturm des Zeugs überrascht wurde, um halb verwandelt zu erwachen, hoffnungslos entstellt mit den Körperteilen eines Pferdes und unfähig zu atmen. Beerdigt von einem trauernden, ebenfalls entstellten Vater, der auf vier statt auf zwei Beinen lief.
    »Eine Welt der Träume, Prinz der Menschen«, sagt Nq'ula und meint damit keineswegs die angenehmen Tagträume, sondern die garstigen dunklen Produkte unseres Unterbewussten.
    Zaher Bey lehnt sich zurück und streckt sich. Er betrachtet die zerstörten Mauern und den Schlamm auf dem Boden, er spürt die Kälte. Sein Blick wandert zu den geborstenen Fenstern und den blutenden Menschen ringsum, die nach einem dummen, sinnlosen Streit kalte Nächte und verzweifelte Tage erdulden müssen. Er betrachtet seine kampfesmüden Mönche und seine neuen Verbündeten. Alle sind voller Blut und zerlumpt. Ich an seiner Stelle würde einen Knoten in der Brust und im Bauch spüren, und ein schrecklicher, langsam brodelnder Zorn würde mein Fleisch in flüssigen Stahl verwandeln. Etwas davon deutet sich tatsächlich in den Worten an, die er nun spricht.
    »Es sind nicht meine Träume, Nq'ula.«
     

8 Piper 90 • Pantomimen und Pornografie
• Die gefundenen Tausend
     
    Ich wuchs mit der nuklearen Bedrohung auf. Sie wohnte an der nächsten Ecke und begleitete mich zur Schule. Gonzo und ich spielten manchmal mit ihr, wenn sich die anderen Kinder nicht mit uns abgeben wollten. Wir waren es schließlich so leid, mit dieser verdammten fantasielosen nuklearen Bedrohung Armageddon zu spielen, dass wir sie anflehten, ein anderes Spiel zu lernen, aber es war zwecklos. Meistens saß sie nur hinten im Klassenzimmer herum und nahm übel. Eines Tages aber erfuhren wir, sie sei tot. Manche Leute regten sich sehr darüber auf, aber ich war nur froh, dass ich sie nicht mehr mit mir herumschleppen musste. Kinder können ganz schön selbstsüchtig sein.
    Wenn sie genug Zeit haben, können sich Menschen an fast alles gewöhnen. Dabei können sie einen Punkt erreichen, an dem sie es als übel empfinden, als beängstigenden, ungemütlichen und unglaublich gefährlichen Zustand, wenn sie nicht jeden Tag in der Angst leben müssen, wegen eines Streits über die wirtschaftliche Theorie und Praxis zu Plasma verdampft zu werden. Dies ist das Geschenk der Konzentration auf das vermeintlich Wesentliche oder der vorsätzlichen Verleugnung. Jungen sind besonders geschickt darin. Mädchen sind – oder sie waren es dort, wo ich aufwuchs – emotional ausgeglichener und gesünder und finden deshalb die alles andere ausschließende Fixierung auf Dinosaurier, Systematik, Philatelie und Geopolitik