Die gelöschte Welt
Wesen, das bei irgendjemandem Wollust hervorrufen könnte. Das Pferd ist ein Brauner oder ein Kastanienbrauner oder fällt in irgendeine andere der unzähligen Kategorien, mit denen die Pferdemenschen allen anderen zeigen, dass sie die Einzigen sind, die Ahnung haben. Freimaurer auf vier Hufen. »Pferdemenschen« passt hier durchaus, und dieser Kerl gehört zu einer ganz eigenen Art, denn er ist kein Mann auf einem Pferd. Er ist ein Mann und ein Pferd. Ein Kentaur, aber irgendwie auch wieder nicht. Kentauren sind in den Legenden von Natur aus das, was sie sind. Sie werden so geboren oder von Zeus oder einem anderen heiligen Fimokünstler erschaffen, nackt modelliert und immer grollend. Sie haben tiefe Stimmen und Bärte und stinken nach Testosteron. Dieser hier sieht aus, als wäre er geschweißt oder aufgepfropft worden. Er erinnert mich an die verschmolzenen Verletzten in Leahs Krankenstation oder an den Panzerkommandanten, der ein Teil seines Fahrzeugs war. Er macht auch nicht das, was Kentauren normalerweise tun. Sie spielen gewöhnlich Musikinstrumente oder laufen umher und sehen edel aus. Dieser hier scheint eher verwirrt und gräbt ein Loch. Er beugt sich bis zu den Vorderhufen hinunter und hebt eine Schaufel Erde aus. Das Loch ist ungefähr einen Fuß tief, und damit hat er den tiefsten Punkt erreicht, den er mit seiner vermutlich höchst eigenartig gekrümmten Wirbelsäule erreichen kann. Der nächste Spatenstich kratzt kaum noch über den Boden.
Er knurrt, knickt in den Vorderbeinen ein und kniet sich hin wie ein Pferd. Das ist offenbar unbequem und wacklig, denn als er sich vorbeugt, um weiter zu graben, kippt er um. Eine Weile zappelt er auf der Seite, dann rollt er sich wieder auf die Füße herum und beginnt von vorn. Schließlich wirft er die Schaufel weg und legt ein schmales, eingewickeltes Paket in das Loch. Es ist so groß wie ein Mensch, wenn der Betreffende klein war oder geköpft wurde. Dann nimmt er wieder die Schaufel, füllt das Loch auf und stolpert davon. Er läuft, als wäre er nicht daran gewöhnt, vier Beine zu benutzen. Das linke Vorderbein und Hinterbein bewegen sich gleichzeitig, wobei er das Gewicht breitbeinig wie ein Seemann auf die rechte Seite verlagern muss, um nicht umzufallen. Dann wiederholt sich der Vorgang auf der anderen Seite. Er hustet und spuckt einen Batzen Blut auf einen Farnwedel. Vielleicht sind seine Blutgefäße nicht in Ordnung. Mir ist nicht ganz klar, wie er sich ernähren kann. Welchen Magen soll er benutzen? Was kann er verdauen? Wir sehen ihm nach, als er sich entfernt, und schämen uns ein wenig, dass wir ihm nicht unsere Hilfe angeboten haben. Andererseits haben wir ihn auch nicht erschossen, obwohl das durchaus möglich gewesen wäre, denn immerhin war er eine unmögliche, fremde Erscheinung an einem gefährlichen Ort und in einer gefährlichen Zeit. Auf so etwas schießt man gewöhnlich. O ja. Wir sind der Inbegriff der Tugendhaftigkeit und sehen einander nicht in die Augen.
Der Mönch betritt die Lichtung. Ohne Umschweife und doch respektvoll gräbt er und wickelt das Päckchen aus. Seine Piratenseite ist heute nicht da, er ist nur ein Mönch und sehr müde. Unter einem Öltuch kommt eine gehäkelte Decke zum Vorschein, darin liegt ein Mädchen oder ein Fohlen. Sie ist noch klein. Bei ihr war die Umwandlung weniger erfolgreich. Sie ist – oder war – ein Pferd mit zwei Beinen und Armen, die in Hufen enden. Sie hält einen kleinen Stoffesel fest. Ihr Gesicht ist länglich und erinnert an ein Pferd, die Augen sind groß und schwarz. Der Mönch nickt und gräbt sie mit bloßen Händen wieder ein.
Zaher Bey und Nq'ula Jann halten Kriegsrat. Ich vermute, es ist in gewisser Weise eine Geheimkonferenz, zu der wir aber alle eingeladen sind. Zaher Bey wird als Verbrecher gesucht, weshalb seine Beratungen zwangsläufig im Geheimen stattfinden, aber wir durften es erfahren und sollen dazu beitragen und zuhören. Im Grunde läuft es nur auf eine einzige Frage hinaus, die sich jeder auch schon vor dem Treffen gestellt hat: Was ist hier gerade passiert? Insgesamt stimmen wir darin überein, dass dies eine verdammt gute Frage ist, die beantwortet werden sollte, bevor es auch uns trifft. Alle haben das Gefühl, wir müssten uns beeilen, denn abgesehen von den eigenartigen und grässlichen Vorgängen dort draußen verfallen wir auch von innen. Es fällt uns mittlerweile schwer, uns an die Namen und Gesichter der Entfernten zu erinnern. Völlig unmöglich ist es
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