Die gelöschte Welt
Achseln. »Es ist beides. Und was ist sein Zweck? Man könnte sagen: Jorgmund soll die Welt zurückerobern. Aber das ist unsere Aufgabe. Jorgmund ist eine Maschine, die das Rohr legt, betreibt und verteidigt. Das ist seine einzige Aufgabe, sein einziges Ziel. Jorgmund kann nichts anderes sehen. Es ist blind – für uns – und weiß nicht einmal, dass wir existieren, solange wir dieses Ziel nicht gefährden. Wenn das Rohr von Affen gebaut und von Hunden bewacht werden könnte, dann wäre das für Jorgmund ganz in Ordnung. Sogar besser, denn es wäre billiger. Jorgmund interessiert sich nicht für Menschen. Wir sind Rädchen im Getriebe. Jorgmund sieht die Welt, das Rohr und alles, was sich ihm in den Weg stellt. Sonst aber nichts.«
Er betrachtet mich, als hätte er mir damit alles erklärt. Ich verstehe es nicht. Dann reibt er sich mit langsamen, fließenden Bewegungen die Hände und denkt weiter nach. Schließlich nickt er.
»Stell dir vor«, sagt der Bey, »deine Frau steckte vor der Piper 90 im Dreck fest und könnte nicht fliehen. Was würde Huster tun?«
Ich schaudere. »Das Ding anhalten.«
»Ja. Aber Jorgmund würde nicht anhalten. Jorgmund würde sie gar nicht sehen. Jorgmund würde sie überrollen, weil das Einzige, was Jorgmund versteht, das Rohr ist. Huster würde es nicht so weit kommen lassen.«
»Ich glaube, Fust oder van Meents würden das auch nicht tun.«
»Davon kann man wohl ausgehen. Aber bist du dir bei ihnen so sicher wie bei Huster?«
Ich versuche, ebenso sicher zu sein. Es gelingt mir nicht. Vermutlich würden sie länger zögern.
»Nein, ich glaube nicht.«
»Nun: Sie halten das Ding an, und deine Frau wird gerettet. Die Piper 90 ist einen Tag hinter dem Plan. Kein Problem für Huster oder für uns. Aber Jorgmund versteht es nicht. Sicher, es gibt einen guten Grund für die Verzögerung, aber wenn der Jahresbericht erstellt wird, erscheint es immer noch als Verzögerung. Fust und Meents werden durch jemanden ersetzt, dessen Prioritäten sich besser mit denen von Jorgmund decken. Später wird dann derjenige, der sie ersetzt hat, aus dem gleichen Grund abgelöst. Verstehst du? Früher oder später landen sie bei jemandem, der im Grunde kein Mensch mehr ist, sondern sich wie ein Zahnrad einfügt. Wie lange wird es dann noch dauern, bis der Verantwortliche, der die Piper 90 leitet, jemanden überfahren lässt?« Er fuchtelt herum und bewegt aufgeregt die Finger. »Wie lange, bis die Piper 90 wichtiger ist als ein Menschenleben? Oder ein Haus? Oder ein Fluss, der ein Dorf mit Wasser versorgt? Wie lange, bis das Wohlergehen des Rohrs wichtiger ist als alles andere?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht kommt es nicht so weit.«
»Aber Jorgmund denkt heute schon so. Für Jorgmund ist alles andere dieser einen Frage untergeordnet: Welche Fortschritte hat das Rohr heute gemacht? Das ist alles. Nur die Leute innerhalb des Systems könnten das verhindern, aber diejenigen, die es tun, werden mit der Zeit ausgesondert.«
»Mag sein.«
Der Bey zuckt mit den Achseln. »Als es mit mir geschehen ist, habe ich es nicht gleich begriffen. Ich dachte, ich kämpfte gegen gierige, böse Menschen. Dann dämmerte mir, dass sie ganz normale Menschen waren, mit denen allerdings etwas Seltsames passiert war. Sie verhielten sich, als wären sie böse und hassten uns. Ihre Taten hatten schreckliche Konsequenzen. Sie setzten einen gerechten Herrscher ab – keinen brillanten, aber immerhin einen guten, vernünftigen Mann. Und zwar nur, weil er ihnen Geld, das er ihnen nicht schuldete, auch nicht geben wollte. Sie besetzten das Land, brannten es nieder und jagten die Einwohner in die Wildnis, dann setzten sie einen Verrückten auf den Thron und nannten ihn einen Staatsmann. Er plünderte die Menschen aus, nahm die Töchter von Addeh als Konkubinen zu sich und warf deren Brüder ins Gefängnis, wenn sie protestierten. So erhoben wir uns und kämpften gegen ihn, auch wenn wir meist nur seinen Besitz stahlen, ihn beschwindelten und ärgerten. Dann war dieses arme Land einer neuen Invasion von hundert verschiedenen Ländern ausgesetzt. Sie aßen unsere Lebensmittel und leiteten unsere Flüsse um, wahrend wir verhungerten, verdursteten und im Kreuzfeuer fielen. Binnen zwei Jahrzehnten verwandelten sie ein wohlhabendes Land, das sich der modernen Welt öffnen wollte, in ein Schlachtfeld voller Blut und verbrannter Bäume. Und die ganze Zeit über konnte ich den Grund nicht verstehen. Es gab einfach keinen vernünftigen
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