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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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hier nur bedeutet, dass wir uns missverstanden hatten.
    »Position erreicht«, meldete Sally. Zeit: vier Minuten fünfzig Sekunden. Das war schnell gegangen, viel schneller als erwartet. Jim Hepsobah trat vor, um die Instrumente und den Zeitzünder einzustellen, und auf einmal machte etwas plink. Ich drehte mich nach dem Geräusch um und erstarrte vor Schreck.
    Bei uns war ein Mann. Ein schlanker, gewöhnlicher Mann in schwarzer Kleidung, der beinahe wie ein Priester wirkte. Er schwitzte, weil es hier drin viel zu heiß für einen Menschen war. Ab ungefähr vierzig Grad nimmt das menschliche Gehirn physischen Schaden. Wenn die Körpertemperatur nur um wenige Grade steigt, verliert man die Orientierung und stirbt.
    Dieser Kerl lag aber nicht im Sterben, und er hatte auch seine Konzentration nicht verloren. Wenn überhaupt, dann wirkte er höchstens ein wenig gelangweilt. In einer Hand hatte er eine Kette mit einem Haken am Ende. Er war schätzungsweise eins achtzig groß und stammte offenbar von asiatischen Vorfahren ab. Seine Arme und Beine bewegten sich unabhängig voneinander – wie bei einer Marionette. Er trug einen affigen kleinen Schnurrbart, zwei schmale schwarze Striche wie die Bösewichter in alten Schwarz-Weiß-Filmen. Dann verneigte er sich.
    »Guten Abend«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart. »Meine Gegenwart hier ist leider nötig. Es wird aber bald vorbei sein.« Nach dieser knappen Vorstellung begann er, Bones Jungs zu töten.
    Nun waren Bones Jungs aber keineswegs ein Haufen Faulenzer mit Kanonen. Sie standen nicht einfach herum und warteten darauf, dass ihnen der Schnurrbartträger mit Kette und Haken die Weichteile zerfetzte. Vielmehr waren sie gepanzerte Soldaten mit modernen Waffen und zählten zu den Besten der Welt. Sie kämpften: nahmen ihre Positionen ein, riegelten eine Kampfzone ab und schossen. Ein Bereich mit dreieckiger Grundfläche (ein Pentaeder; so etwas sieht man heute nicht mehr oft) und einer Höhe von etwa zwei Metern wurde entschieden unbewohnbar. Als der Mann vorbeihuschte, ließen sie die Waffen fallen und gingen mit Kohlefaserstöcken und Keramikmessern zum Nahkampf über. Sie waren jung, schnell und stark und verstanden es zu kämpfen, ohne sich gegenseitig zu behindern. Sie setzten Karate, Silat und ein wenig Ju-Jutsu ein. Keiner von ihnen war ein Anfänger. Bones Jungs waren gut. Sie waren so gut, dass sie es fast schafften, ihn zu behindern.
    Der Schnurrbartträger schritt mit fließenden, gemessenen Bewegungen durch sie hindurch. Er war nicht einmal besonders schnell. Vielmehr war er einfach nur genau dort, wo er sein wollte. Wenn sie eine seiner Bewegungen kompensiert hatten, hatte er schon die nächste vollzogen. Im Gegensatz zur landläufigen Weisheit wirkte es überhaupt nicht wie ein Tanz. Ein Tänzer arbeitet mit dem Rhythmus und führt etwas vor. Verschiedene Körperteile bewegen sich fast eigenständig, und die Schönheit entsteht aus der Harmonie. Ein Tänzer will eher etwas ausdrücken als etwas verbergen. Der Schnurrbartträger tat nichts dergleichen. Er machte keine überflüssige Bewegung, bewegte keinen Körperteil, wenn er es nicht musste, und war auch nicht auf eine Vorführung aus. Er tötete nicht einmal abrupt oder mit übermäßiger Gewalt. Er stach einfach fest genug zu, um den Gegner zu töten, und vermied es dabei, dass sich sein Haken in den Rippen oder der Wirbelsäule verfing. Er tötete ergonomisch, damit er später, wenn er seinem bösen, schnurrbärtigen Boss Bericht erstattete, kein unangenehmes Ziehen in der Schulter verspürte und nicht zum bösen schnurrbärtigen Doktor gehen und eine Auszeit erbitten musste, um sein RSI-Syndrom auszukurieren. Gelegentlich, wenn ihm ein Manöver mal nicht ganz perfekt gelang, klimperte seine Kette oder der Haken. Das war die einzige Energie, die er verschwendete.
    Im Funkempfänger hörte ich Jim Hepsobahs Stimme, der seine Arbeit dennoch nicht unterbrach: Feindkontakt, ich wiederhole, Feindkontakt! Wir werden angegriffen! Aber die Störungen, die vom Feuer herrührten, waren zu stark, und deshalb kam die Antwort nur abgehackt bei uns an. Die anderen stellten ihre Zünder ein oder kämpften um ihr Leben, vielleicht auch beides gleichzeitig. Das war wichtig, aber nicht relevant. Zuerst mussten wir unsere eigenen Aufgaben erledigen.
    Der Schnurrbärtige zog den Haken aus dem Bauch eines Burschen, dessen Namen ich nicht kannte, und näherte sich uns.
    Gonzo ging ihm entgegen.
    Die Ereignisse überschlugen

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