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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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Fast beiläufig schleuderte Gonzo die Stahlstange, und der Schnurrbärtige bekam es eine halbe Sekunde zu spät mit. Sie drang ein paar Fingerbreit in seine Schläfe ein, und er fiel gestreckt auf den Rücken. Er schauderte nicht einmal, er war einfach erledigt. Egal. Es war nicht wichtig.
    Ich erreichte die Türen unseres Trucks und riss sie auf, dann sah ich mich über die Schulter um. Gonzo starrte mich durch seine Sichtscheibe an, ihm war offenbar nichts passiert. Vielleicht hatten uns die Anzüge geschützt, vielleicht hatte uns auch die Gegenwart von so viel heraussickerndem FOX geholfen und das Zeug neutralisiert. Vielleicht waren wir nach der Zeit auf der Piper 90 alle immun. Möglicherweise gab es eine Farm, auf der sich alte Hunde erholen konnten, wo die Kaninchen zu fett waren, um wegzulaufen, und wo ein exzentrischer Millionär professionelle Masseure anheuerte, die die Gäste jeden Abend vor dem Kaminfeuer verwöhnten. Jim Hepsobah und Sally Culpepper rührten sich nicht. Wie versteinert standen sie da. Oh, verdammt noch mal, vielleicht waren sie wirklich versteinert. Ich schrie sie an und bekam nur ein forderndes, verzweifeltes Krächzen heraus.
    »Noch vier Minuten und zwanzig Sekunden, dann sind wir im Eimer. Es ist mir egal, ob ich jetzt Hörner und einen Schwanz habe, tut es einfach, und dann könnt ihr sie mir später abschneiden, aber steht da nicht rum wie die Ölgötzen, sondern setzt die verdammte Bombe ab!« Ich war Ronnie geworden, aber Gonzo begriff es, er war im nächsten Augenblick neben mir und hob das verdammte Ding fast allein und ohne den Flaschenzug herunter. Dann waren Jim und Sally da – wir hatten noch drei Minuten. Unmöglich, aber wir taten es. Wir waren über die Zeit, aber noch unterhalb der kritischen Grenze – das wussten wir, weil wir noch lebten. So sollte es auch bleiben, ja. Wir hatten nicht genug Zeit, die Verletzten einzusammeln, aber Gott sei Dank war der Schnurrbärtige kein Kämpfer, der Überlebende zurückließ. Gonzos Anzug war an einem Arm zerfetzt, seine Haut brannte zwar, doch er wurde nicht langsamer. Wir flohen.
    »Neue Bombe«, sagte Sally. »Neue Bombe abgesetzt! Sofort evakuieren. Wiederhole: sofort. Nur mit Messton antworten.« Jedes Funkgerät kann einen Messton senden, mit dem man zu morsen oder einen Kanal zu testen vermag. Ein paar Sekunden später kamen die Töne, die zusammen einen Akkord ergaben, und wir wussten, dass sie uns hören konnten und am Leben waren. Wir stellten den Zünder auf neunzig Sekunden und sprangen in die Trucks. Dann rannten wir in die sengende Hitze hinaus, und die Reifen drehten auf der weichen Straße beim Anfahren sogar durch. Bei achtzig Sekunden holperten wir über das Tor und schleppten ein Stück davon mit. Die anderen Trucks und der Rest von Bones Leuten befanden sich ein gutes Stück vor uns. Dann kamen über Funk Fragen und Forderungen herein: Was sollte das? Was für ein Feind? Jesus, nun gebt doch Gas! Dann Jim Hepsobah, und zwar wie ein Spieß: Haltet den Mund und sagt mir, dass es erledigt ist! Das war es. Alle Ladungen am Ort. Noch eine Minute bis zur Explosion, und Gonzo hätte beinahe den Truck umgeworfen, als er uns hinter dem Hügel in Sicherheit brachte.
    Wir gingen hinter der Erhebung in Deckung, zwanzig Trucks und ebenso viele Panzer und Panzerfahrzeuge mit versengter Farbe und geschmolzenen Reifen. Wir versteckten uns, duckten uns und warteten.
    »Drei Sekunden«, sagte Sally Culpepper, und ich war sicher, dass sie sich irrte.
    Dann wurde der Himmel über uns weiß. Ich presste die Augen zusammen. Trotzdem konnte ich noch den Schatten des Hügels und das Lenkrad vor dem Weiß dahinter erkennen. Die Trucks bebten und schauderten, am Rand unseres Trupps kippte sogar ein Panzer um.
    Als wir um den Hügel spähten, war Station 9 verschwunden, und an ihrer Stelle klaffte eine schwarze, rauchende Ruine. Der Brand war aus.
    Ein schönes Gefühl.
     

10 Heimkehr • Leichte Verwirrung hinsichtlich der Treue • Eine neue Erfahrung
     
    Es ist der Tag danach: Die Welt ist erneuert. Alles ist klar und frisch, auch die Farben strahlen. Ich lebe noch, genau wie alle anderen, die ich liebe. Diese einfache Tatsache versetzt mich in Erstaunen, und ich muss kichern. Gonzo, der nicht so sehr zum Kichern neigt, ignoriert mich demonstrativ, als wir fahren. Ich fühle mich nagelneu, wie frisch gewaschen und irgendwie eins mit der ganzen Welt. Meine Erinnerungen und meine Gegenwart sind völlig durcheinandergewirbelt und

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